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UNWORT DES JAHRES 2025

27 Mär

Ich habe einen Vorschlag: „Demokratische Mitte“

Dieser Begriff ist ein Widerspruch in sich selbst, ist das Gegenteil dessen, was er meinen soll. Jedenfalls in seinem von der „Demokratischen Mitte“ gemeinten Sinn und Gebrauch. „Demokratische Mitte“ ist der Begriff eines politischen Raumes und versteht sich als Verortung politischer Parteien, die sich und ihr Handeln einzig und allein als demokratisch verstehen. Dieser Sinn ist ausschließend, ja aussondernd. Kein Problem wäre es, gäbe es auch „Demokratische Ränder“. Doch dann verlöre jener Begriff jede Bedeutung. Der Platz des Randes bleibt den Schmuddelkindern vorbehalten. Das ist das Undemokratische an dem Begriff der „Demokratischen Mitte“. Und da zudem nur Demokraten die Guten sind, darf die Macht auch nur ihnen allein gehören.

Und so fängt es an!

Noch alle Tassen im Schrank?

14 Mär

12. März – Mittwoch

Friedrich Merz, in den letzten Zügen seiner Wahlkampftournee, zu Gast in Bayern, in München, kommt so richtig in Schwung, hats dem Söder abgelauscht, wie mer an Bayern in Stimmung bringt. Und er kommt gut an, der Saal tobt, er trifft die Seppelhosenmentalität – „mir san mir!“ – und mir san viele. Aber net alle. A bissl Diskriminierung muss scho sei! Das weiß er. Im Hochgefühl seines kommenden Wahlsiegs: „Jetzt machen wir wieder Politik für die Mehrheit der Bevölkerung, . . . für die Mehrheit, die grade denken kann, die auch noch alle Tassen im Schrank haben, und nicht für irgendwelche grünen und linken Spinner auf dieser Welt . . .“! Merz, schon neunundfünfzig, wird nie ein „Alter Fritz“ werden. Er hat sich verrannt, in Bierlaune. Aber seine humorlosen Konkurrenten, besonders die Grünen, die ja voraussichtlich raus sind aus den Regierungsgeschäften, mimen die Empörten. Merz hatte noch, während er formulierte, nachgeschoben „. . . die sollen da draußen rumlaufen!“ Aber so fein differenzieren die Medien nicht. Und hatten die linken und grünen Spinner, die da draußen rumgelaufen waren und randaliert hatten, sich nicht mit ihren Abgeordneten solidarisiert, die selbst außer Rand und Band in der Debatte krakeelt hatten, als Merz in der entscheidenden Sitzung nicht nach links und nicht nach rechts schaute, um ein Gesetz auf die Gefahr hin durchzukriegen, es nur mit den Stimmen der AfD zu schaffen. Wenn die Brandmauer gefallen wäre – nicht auszudenken. Ein geistiger Exodus hätte begonnen und ganze Industrien wären abgewandert. Es kam nicht dazu! Und doch, wieder hatte Merz sich vergaloppiert. Ein fataler Gesichtsverlust für den Kanzlerkandidaten. Doch eine weitere Zeitenwende kam: TRUMP! die half ihm aus der Patsche.

Von nun an kennt Merz, wie einst seine Majestät, keine Parteien mehr, auch die eigene nicht. Wieder muss staatspolitische Verantwortung dafür herhalten, dass überhaupt regiert werden kann. Die „linken Spinner“ zieren sich diesmal nicht, müssen vom Bundespräsidenten nicht gemahnt werden. Sie haben gelernt beim Eintritt in die letzte GroKo. Eile ist geboten. Trump, der Verräter, will mit Putin, über die Köpfe von Ukraine und EU hinweg Frieden schließen!

13. März kein Freitag

Im Bundestag. Die Kleine demnächst wahrscheinlich regierende Koalition, bringt ihr grandioses Verschuldungsprojekt ins Plenum, das meiste davon sind Kriegskredite. Diesmal stimmen die Sozialdemokraten nicht, wie 1914, nur zu – sie hecken sie selber mit aus. Freilich, auch für die marode Infrastruktur ist was dabei – wer denkt da nicht an Brücken, Schienen und Autobahn. Richtig, alles kriegswichtig! – Auch Krankenhäuser. Ja, die werden dann auch gebraucht, bestenfalls! Die Grünen sind noch zögerlich, wollen jetzt schnell noch ein bisschen auf Opposition machen. Und dann wabert, wenn auch nur eine Halblüge, doch allzu passend als unschlagbares Argument durchs Haus: Putin lehnt den Waffenstillstand ab, dem Selenskyj zugestimmt hat. Nun, es war nicht Putin. Die Medien haben das von irgendeinem Putin-Berater als Empfehlung für Putin aufgeschnappt.

Am Abend dann herrscht im deutschen Mediengestrüpp heftiges Spekulieren, mit negativem Unterton. Putin stimmt Waffenruhe zu – mit Bedingungen! Kann „dieser Verbrecher“, „dieser Volksmörder“, „Vergewaltiger“, „Entführer“ und überhaupt – könnte der nicht einfach mal so zustimmen, oder noch besser, nur einfach mal seine Truppen zurück- und abziehen?

Die Entscheidung über das BlackRocker-Geschenk für BlackRock & Co., für das eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, soll am kommenden Dienstag fallen. Bis dahin kann heutzutage noch viel geschehen. Wir haben ein Bundesverfassungsgericht. Es sollte entscheiden können, ob das Anliegen der künftigen Regierung so zeitnah befriedigt werden darf, ohne Rücksicht auf den neu gewählten Bundestag, der schon in der nächsten Woche sich konstituieren könnte. Darauf hofft die Opposition. Und darauf hoffen viele Bürger, die ahnen, was dieser geplante riesige Schuldenberg, böse Menschen sage, dieser finanzielle Staatsstreich, für sie bedeutet.

Haben die künftigen Regierungskoalitionäre wirklich mehr Angst vor der realen Friedensgefahr aus dem Weißen Haus, als vor einer beschworenen Kriegsgefahr aus dem Kreml! Es könnte sein, dass sich bald vor aller Welt zeigt,

WER DA NICHT MEHR ALLE TASSEN IM SCHRANK HAT!

Der Papst und die Ukraine

11 Mär

Und wieder ein „Skandal“

Der Papst empfiehlt Selenski, sich um Friedensverhandlungen mit Russland zu bemühen! Um Frieden! Häh? Skandalös! Und schon hebt das Geschrei der üblichen Verdächtigen an, die nicht müde werden, der Ukraine das Siegen zu lehren – mit unseren Waffen und ihren Soldaten. Agnes Strack-Zimmermann ist „als Katholikin“ entsetzt über das Ansinnen ihres Papstes, und der in Kriegsdingen so bewanderten Präsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt, 2011 Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentags, passt die Falschinterpretation des Papstes ebenfalls in ihr krudes Weltbild.
Schaut in die Medien, und ihr werdet im Überfluss all die anderen finden, die ebenso Krokodilstränen vergießen über das Leid der Menschen in der Ukraine, dieses aber nur beendet sehen wollen bei einem Sieg des geschundenen Landes über Putins Russland. Woher dieser Hass der so unreflektiert über (weitere) Leichen geht?

Können die Schreihälse, angefeuert durch die mitverantwortliche Journaille, die sofort das Märchen erfunden hat und unbeirrt verbreitet, das Märchen von der weißen Fahne des Kapitulierens, die der Papst den Ukrainern in die Hand drücken will, können diese hohlköpfigen Kriegsschreier nicht vorher einen Moment innehalten? Wissen sie wirklich nicht, dass die weiße Fahne, die vom Papst gemeinte, die Fahne der Parlamentäre ist, die ausgeschickt werden, um zu verhandeln, und dass Verhandeln etwas anderes ist als Kapitulieren? Hass hat mal jemand gesagt, Hass sei auch Gift für die Demokratie. Recht hat sie!
Der Papst, ein Realist, der dennoch die Liebe predigt, sagt „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln.“ und Tagesschau kommentierend weiter „Ohne eine der beiden Konfliktparteien Russland oder Ukraine direkt beim Namen zu nennen, fügte er hinzu, ohne Verhandlungen könne die Situation noch schlimmer werden, weshalb man sich dafür nicht schämen solle.“

So sieht die Lage aus, und so sollte sie auch diskutiert werden!

Der Skandal

3 Mär

Auch ich hätte applaudiert

Steinmeier überschreitet seine Kompetenzen!

1 Dez

Der ewige Verwaltungsroutinier

Von Michael Jäger / in „der Freitag“ Ausgabe 48/2017 

Es mag den Horizont des Bundespräsidenten übersteigen, aber die Minderheitsregierung birgt Stabilität

Frank-Walter Steinmeier überschreitet eindeutig seine Kompetenzen. Nach Artikel 63 des Grundgesetzes hat der Bundespräsident das Recht, eine Minderheitsregierung abzulehnen und stattdessen Neuwahlen anzuordnen. Sie aber zu erwägen und unter gegebenen Umständen für die bestmögliche Lösung zu halten – sie dem Präsidenten also erst einmal vorzuschlagen –, ist das Recht des Bundestages. Über dieses Recht setzt sich Steinmeier hinweg, wenn er die Parteivorsitzenden der CDU, CSU und SPD an diesem Donnerstag zum Rapport einbestellt, offenbar um sie zur Großen Koalition zu drängen. Er verhält sich, als befänden wir uns im Ausnahmezustand und als dürfe er dann zwar nicht Notverordnungen wie in der Weimarer Republik, aber doch so etwas wie Notvorschläge unterbreiten. Das ist nicht im Sinn des Grundgesetzes. Dieses ist weit entfernt von der undemokratischen Vorstellung, ein Einzelner habe den größten politischen Durchblick. Steinmeiers Auffassung steht nicht über dem Streit der Parteien.

Zudem ist diese Auffassung bekannt: Steinmeiers Verständnis von Politik ist immer das eines machtbewussten Verwaltungsfachmanns gewesen. Seit Gerhard Schröders Regierungszeit ist das klar. Schröder hatte Bodo Hombach als Kanzleramtsminister eingesetzt, weil er einen Ideengeber wollte. Steinmeier verstand es, Hombach auszubooten. Als er selbst Kanzleramtsminister geworden war, liebte er die Regeln, nicht die Kreativität, eigene programmatische Impulse hielt er für überflüssig, und „Vabanquespiele“, schreibt Torben Lütjen in seiner lesenswerten Steinmeier-Biografie, suchte er zu unterbinden. Diese Vorsicht steht einem Außenminister gut an, nicht aber einem Innenpolitiker. Eine Minderheitsregierung ist in

Steinmeiers Augen zweifellos ein Vabanquespiel. Er sieht eine Blockade der Stabilität darin, die er daher als guter Verwaltungsroutinier schon im Vorfeld abzuwürgen versucht.Steinmeier schuf die Agenda 2010, welche Gerhard Schröder dann mit zunehmender Unlust vertreten hat. Als Schröder sie im Wahlkampf 2005 verteidigte und gleichzeitig vor dem sozialen Kahlschlag einer schwarz-gelben Regierung warnte, war das die „Quadratur des Kreises“, wie Lütjen treffend bemerkt. Sein schmales Büchlein sollten alle Sozialdemokraten noch einmal lesen. Es würde ihnen zeigen, dass sich eine inhaltliche Erneuerung der SPD gerade gegen Steinmeier richten müsste, der sie nun als Bundespräsident hintertreibt. Er ist schlimmer als Schröder: Der folgte 2005 seinem Kanzleramtsminister und kämpfte doch als Sozialdemokrat gegen Union und FDP, die Quelle der Agenda-Ideen, so widersinnig das auch war. In diesem Widersinn bewegt sich die SPD noch heute. Deshalb gibt es immer noch oder schon wieder Sozialdemokraten, die der Großen Koalition zuneigen. Für Steinmeier sind beide Optionen gleich akzeptabel, Jamaika oder Schwarz-Rot. Nur eine Minderheitsregierung soll es nicht geben. Aber beide Optionen arbeiten der AfD zu und so der Instabilität.

Den besten politischen Durchblick haben in Wahrheit die Sozialdemokraten, die sich eine Zusammenarbeit mit der Union auf bestimmten Feldern vorstellen und auf anderen nicht. Wenn sich alle Parteien diesseits der AfD so verhielten, liefe es auf ein geregeltes System wechselnder Mehrheiten hinaus und so auf eine stabile Minderheitsregierung. Die Parteien könnten sich etwa einigen, niemals eine auf die AfD angewiesene Mehrheit zu bilden. Das mag über Frank-Walter Steinmeiers Horizont gehen. Die SPD muss sich deshalb nicht noch kleiner machen, als sie ohnehin schon ist.

Olaf Scholz‘ Ausflüchte – oder, wie eine Erneuerung der SPD nicht gelingen wird

8 Nov

Eine Kritik

Hier auch im .pdf Format

von Jost Aé

 

Vorbemerkung: Auf der Webseite von Olaf Scholz sind unter dem 27. 10. 2017 Überlegungen zur Zukunft der SPD zu finden unter: 

O. S.: „Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!“

http://www.olafscholz.hamburg/main/pages/index/p/5/3211

Das rebellisch intonierte Motto erweckt hohe Erwartungen! Hier nun der Versuch einer kritischen Würdigung! Die Anmerkungen sind entlang des Textes platziert, so, dass genau verfolgt werden kann, was zur Kritik steht. Zugegeben, durch dieses Verfahren nehmen Originaltext und Kritik gewöhnungsbedürftig viel Raum ein. Um die Tiefe der Scholz’schen Argumentation zu erfassen, war es mir nicht möglich, diesen Nachteil zu vermeiden. Andererseits war es nicht machbar, hier noch andere Themen, wie z. B. das innerparteiliche Demokratiedefizit, zu berühren. Auslassungen am Originaltext, der als Zitat behandelt wird, werden wie üblich gekennzeichnet. Sarkastische Einwürfe möge mir der Leser verzeihen – ich konnte mich ihrer nicht entschlagen!

O. S.: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat es nun viermal hintereinander nicht geschafft, die Bundestagswahl für sich zu entscheiden und ein Mandat zur Bildung einer neuen Bundesregierung zu erhalten. …

Keine Ausflüchte: Schonungslose Betrachtung der Lage

 O. S.: „Es ist also Zeit für eine schonungslose Betrachtung der Lage. Die Sozialdemokratische Partei hat strukturelle Probleme. Und da führt es nicht weiter, wenn man sich mit Debatten über Plakate oder darüber aufhält, ob der Kanzlerkandidat falsch beraten war oder etwas falsch gemacht hat. Die Vorschläge, die beispielsweise die Initiative SPD++ zu neuen Organisationsmodellen der Partei gemacht hat, verdienen sorgfältige Erörterung und sollten nicht ungehört verhallen. Aber die Lage kann nur dann in vollem Umfang richtig erfasst werden, wenn nicht Ausflüchte den Blick für die strukturellen Probleme verstellen.“

Schon die „schonungslose Betrachtung“ beginnt damit, den Eindruck zu vermitteln, es ginge bei den Problemen und der notwendigen Erneuerung der SPD allein um strukturelle Probleme: Die strukturellen Probleme der SPD sind Schuld am Wählerschwund! Hätte man – ja wer eigentlich? – auf die SPD++ gehört, dann sähe, so wird die Vermutung nahegelegt, alles ganz anders aus. 

O. S.: „Ausflucht 1: Noch nach jeder gescheiterten Bundestagswahl wurde die fehlende Mobilisierung der SPD zuneigender Wähler thematisiert. Tatsächlich spielen Verluste, die daher rühren, dass Wahlberechtigte, die bei einer vorherigen Wahl die SPD gewählt haben, das nicht mehr tun, eine Rolle.“ Ja, da schau her, würde der verblüffte Bayer dem pfiffigen Hanseaten entgegnen!

O. S.: „ … Abgesehen davon, dass die Wahlenthaltung von Anhängern überwiegend nicht die Folge von anderweitiger Freizeitplanung am Wahlsonntag ist, sondern von Dissens zur Politik ihrer Partei.“

Richtig! Genau dieser Dissens ist, wenn auch nur so nebenbei erwähnt, der entscheidende Punkt!

O. S.: „Diesmal wurde von der SPD geradezu vorbildlich mobilisiert. Sie hat in kurzer Zeit mehr als 25.000 neue Mitglieder gewonnen.“ Das ist allerdings für einen wirklichen Aufbruch bei einem 80-Millionen-Volk nicht viel. Es geht auch besser – Corbyn schaffte 100 000 in kurzer Zeit!

O. S.: „Fehlende Mobilisierung erklärt dieses Wahlergebnis also nicht.“

In der Tat, es lag nicht an fehlendem Mobilisierungsaktionismus. Dieser war jedoch nicht geeignet,  d i e   W ä h l e r  den Dissens vergessen zu lassen! Es fehlte nicht am guten Willen der Wahlkämpfer, sondern an glaubhafter Substanz ihrer Botschaft.

O. S.: „Ausflucht 2: Die Stärke der SPD in Ländern und Kommunen hat einen klaren Blick auf die tatsächliche Schwäche der SPD im Bundestag vernebelt. Angesichts der seit 2005 neu gewonnenen Verantwortung in den Staats- und Senatskanzleien von Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen war das lange auch nicht verwunderlich.“

Das war ja auch, zynisch gesehen, nicht so schlimm, die Schwäche im Bundestag, hatten wir doch starke Minister und Ministerinnen in der Bundesregierung Diese Diagnose ist abenteuerlich, und wenn sie zuträfe, sollten alle derart vernebelten Köpfe ihren Hut nehmen – und nicht mehr zurück auf „Neu-Anfang“!

O. S.: „Nachdem in NRW und Schleswig-Holstein seit diesem Sommer nun Unionspolitiker regieren, muss die Lage aber endlich (!) genauer betrachtet werden.“ Denn man tau!

O. S.: „Ausflucht 3: Die sozialpolitischen Beschlüsse der rot-grünen Koalition, insbesondere die 2003 angekündigte Agenda 2010 und die Rentenbeschlüsse zu Beginn der anschließenden großen Koalition, haben die SPD Kraft gekostet und sie hat darüber an Zustimmung verloren. Das bezweifelt wohl niemand.“

Nicht also die nicht nur angekündigte sondern auch verwirklichte Agenda- und Rentenpolitik hätte die Wähler in Scharen verbittert und der SPD entfremdet? Und die Wähler hätten einer SPD nur nicht mehr ihre Zustimmung geben mögen, weil sie durch ihre sozialpolitische Kraftanstrengung geschwächt wurde? Darauf muss man rhetorisch erst einmal kommen!

O. S.: „Man muss der SPD sozialpolitisch vertrauen. Und die Würde der Arbeit muss im Zentrum ihrer Politik stehen. Daran darf niemand (wieder) zweifeln. Es ist daher gut, dass die SPD seither in beiden großen Koalitionen zahlreiche Reformen vorangetrieben hat, die Deutschland sozialer und gerechter machen. Kurzarbeit hat in der Krise 2008/2009 Hunderttausende Arbeitsplätze gerettet, Branchenmindestlöhne und ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wurden etabliert, Leiharbeit und der Missbrauch bei Werkverträgen eingeschränkt, erwerbsgeminderte Rentner bessergestellt, langjährigen Beschäftigten der Rentenzugang bereits mit 63 ermöglicht, Kitaplätze ausgebaut, BAföG und Wohngeld erhöht, Alleinerziehende unterstützt, Mieter besser geschützt. Die Aufzählung der von der SPD durchgesetzten Gesetze für ein gerechtes Deutschland ließe sich mühelos verlängern. Das Wahlprogramm der SPD bei dieser Bundestagswahl hat mit zahlreichen Konzepten wie der Wiedereinführung der Parität bei den Beiträgen zur Krankenversicherung oder der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen oder zur Stabilisierung des Rentenniveaus daran angeknüpft. Und der Wahlkampf stand ganz im Zeichen der sozialen Gerechtigkeit. Es ist daher nicht plausibel möglich, das Wahlergebnis damit zu begründen, dass die SPD sich nicht genügend für soziale Gerechtigkeit einsetze.“

Ist es wirklich nicht zu verstehen, dass die Wähler der SPD nicht, wenigstens im wahlpolitisch notwendigem Maß, vertrauen? Die Plausibilität stiege deutlich, wäre man ehrlich und prüfte diese „sozialpolitischen Beschlüsse“ auf ihre soziale Konsistenz, anstatt sie nonchalant auf die Positivseite zu setzen! Bei genauerem Hinsehen ist unschwer zu erkennen, dass diese Beschlüsse allesamt inhaltlich halbherzig gestrickt sind – immer mit der Ausrede, mehr sei nicht drin gewesen.

Unübersehbar gibt es eine heikle Tendenz auch in der SPD, zu glauben, das Wahlergebnis sei auch deshalb so ausgefallen wie es ausfiel, weil man z u v i e l von „sozialer Gerechtigkeit“ geredet hätte! Das verprelle wohlsituierte potentielle SPD-Wähler aus der Mitte! Die Partei muss wissen, auf welche Wähler sie verzichten muss, wenn man ihr „sozialpolitisch vertrauen“ können soll! (Siehe auch unter Punkt „Anerkennung!“)

O. S.: „Ausflucht 4: Nach den beiden vorherigen Bundestagswahlen wurde die fehlende Machtoption der SPD als Hemmnis beschrieben, ausreichend Wählerinnen und Wählern zu gewinnen. Nur diesmal gilt auch das nicht. Zum einen wurde Anfang des Jahres die so gerne erörterte Frage, wie die SPD zu einem Regierungsbildungsauftrag kommt, angesichts steigender Umfrageergebnisse für jedermann beantwortet: Durch das plebiszitäre Mandat eines starken Wahlergebnisses; am besten, indem die SPD als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgeht. Zum anderen ist die SPD mit der Frage, wie sie eine Regierung bilden kann, geschickter umgegangen. Und es wurden auch stets verschiedene Optionen, solange sie rechnerisch möglich waren, in der Öffentlichkeit erörtert. Die Partei hat sich klug fast vollständig aus den Debatten herausgehalten.“

Diese Argumentation ist selbst Ausflucht, verhindert sie doch eine schonungslose Sicht auf die Wahlkampfmisere, die sich so zugleich als Misere der Partei entpuppt. Die Wahrheit ist, die Chance der SPD, stärkste Fraktion zu werden, tendierte von Anfang an gegen Null! Das nicht gesehen zu haben, zeugt von schon sträflicher Realitätsferne. Die einzige Chance, einige der hier skizzierten ehrgeizigen Vorhaben zu verwirklichen, wäre RotRotGrün gewesen, das konnte jeder sich an fünf Fingern seiner linken Hand abzählen! Es hat daher schon etwas Tragisches, dass die Helden dieses Wahlkampfs, diese realistischere Chance nie wirklich im Fokus hatten. Und so merkten auch potenzielle SPD-Wähler schnell, dass RRG weder der Kanzlerkandidat noch die Parteiführung, noch weite Kreise links-phobischer Mitglieder besonders in den alten Bundesländern, wünschten. Dazu kommt, dass der beharrlich geäußerte Wille, Kanzler zu werden, Wähler wenig beeindruckt, wenn dies nicht mit einer realistisch erscheinenden Machtoption und mit personaler Glaubwürdigkeit verbunden ist! Die Verkennung dieser Tatsache, muss der gesamten Führung als Versagen angelastet werden!

O. S.: „Ausflucht 5: Gerne wird argumentiert, dass die SPD nicht zu alter Stärke zurückkehren könne angesichts der wachsenden Konkurrenz durch zusätzliche Parteien. Im linken Milieu seien die Grünen und dann die Partei Die Linke hinzugekommen. Ganz rechts trete jetzt die AfD auf. Tatsächlich sitzen jetzt sechs Fraktionen im neuen Bundestag. Dieser Einwand überzeugt aber nicht. Ganz abgesehen davon, dass im ersten und zweiten Deutschen Bundestag auch viele Parteien saßen. Wenn die Wahlergebnisse so ausgefallen wären, wie das Frühjahr hoffen lassen durfte, säßen auch sechs Fraktionen im Bundestag. Aber ein Sozialdemokrat wäre Kanzler.“

Gewiss, die abgewiesene Argumentation ist falsch, aber der Verkehrung von Ursache und Wirkung wird nicht widersprochen. Fakt ist doch:  w e i l  die SPD, im Verein mit den anderen demokratischen Parteien, Vertrauen verloren hat, sind die Wähler abgewandert. Die Gründe kann man nur bei sich selbst suchen und finden.

Ausflucht 5“ flüchtet selbst vor der Wahrheit und hält pseudo-logisch, also falsch, dagegen: Nicht das Frühjahr ließ hoffen, sondern die Hoffnung der Menschen auf Schulz ließen die Partei träumen: Die Frage muss daher so gestellt werden: Warum wurde die Hoffnung enttäuscht, warum platzte der Traum?!

O. S.: „Die Herausforderungen, vor denen die SPD steht, sind grundsätzlicher:

Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung

 Es ist kein Zufall, dass die sozialdemokratischen Parteien in Europa, und generell in allen klassischen Industriestaaten, fast zur gleichen Zeit nicht mehr an frühere Wahlerfolge anknüpfen können.“

Genau das gälte es zu untersuchen! Es kann doch nicht trösten, dass auch andere schwächeln und abgestraft werden. Die „schonungslose Betrachtung“ der Lage muss differenzieren: in GB schwächelt die Labourparty keineswegs, in Frankreich gibt es eine relativ starke Linke, die dortigen „Sozialdemokraten“ haben allerdings regierend ihr Ansehen ruiniert! Warum? – Und die sozialistischen Parteien im Süden Europas – von den nördlichen Schwester-Parteien schamlos im Stich gelassen, weil sie sich ihrem neoliberalen Kurs verweigernspielen sie etwa keine erwähnenswerte Rolle? s. a. unten!

O.S.: „Die sozialdemokratischen Parteien in diesen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern stehen vor der Herausforderung, dass die – im Vergleich zu den Jahrzehnten davor – geringere Wachstumsdynamik seit den achtziger Jahren, die Globalisierung und die technologischen Veränderungen, namentlich die Digitalisierung, vielen Bürgerinnen und Bürgern (berechtigte) Sorgen bereiten. Überall weisen die Statistiken sinkende Löhne in den unteren Einkommensgruppen und nicht selten auch stagnierende Einkommen in der Mittelschicht aus. Und das sogar, wenn die Volkswirtschaft prosperiert oder wie in Deutschland die Beschäftigungsstatistik Rekordzahlen vermeldet. Die Schere zwischen denen, die am oberen Ende der Einkommensskala stehen und den unteren Einkommensgruppen“ (sprich: zwischen arm und reich!) „geht wieder auseinander, nachdem es bis zum Ende der siebziger Jahre eine lange Zeit umgekehrt (?) war. Langsam aber unübersehbar nimmt die Hoffnung, dass die Zukunft besser wird, bei Teilen der Bevölkerung ab. …“

In der Tat, die sozialdemokratischen Parteien stehen vor großen Herausforderungen! Der real existierende Kapitalismus steckt in einer Dauerkrise: das Wachstum, sein wichtigstes Lebenselixier, sinkt; er muss, um sein einziges Ziel, den maximalen Profit, zu erreichen, die Ausbeutungsrate erhöhen – mit auch d e n Folgen, die oben beschrieben werden. Hier aber einen schlichten, quasi fatalistischen Zusammenhang mit den abnehmenden Wahlerfolgen, sprich Wahlniederlagen, zu unterstellen, verbaut den Blick auf die schmerzliche Wahrheit:  d i e s e  Parteien haben versagt! Jede andere Deutung käme einem Offenbarungseid der Sozialdemokratie gleich! Vor genau diesen Herausforderungen zu kapitulieren, sie nicht im Gegenteil als Chance zu sehen, Partei für das neue Prekariat zu ergreifen, nähme ihr jede Existenzberechtigung! Aber ist es noch schlimmer: Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung haben an der Prekarisierung emsig mitgewirkt und tun dies bis auf den heutigen Tag. Das Dilemma der SPD kann am besten ausgedrückt werden durch die beiden ideologisch besetzten Schlüsselworte: „Wirtschaftskompetenz“, der sich die SPD rühmt, und „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, wofür sie geschmäht wird.

O. S.: „In dieser veränderten Welt müssen die sozialdemokratischen Parteien plausible Antworten auf die Frage geben können, wie eine gute Zukunft möglich ist, die sich nicht auf die natürlichen Profiteure der Globalisierung und Digitalisierung beschränkt. Die sozialdemokratischen Konzepte müssen deshalb weiterentwickelt werden. Sie müssen gewährleisten, dass der Fortschritt, der mit der Globalisierung und Digitalisierung verbunden ist, auch für die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger als Fortschritt spürbar wird.“

Ausflüchte:  „In dieser veränderten Welt…“, „Globalisierung und Digitalisierung“! – Die Sozialdemokratie muss i m m e r theoretisch auf der Höhe ihrer Zeit, also vorausschauend sein! Das ist sie aber schon lange nicht mehr! Visionen sind seit Helmut Schmidt verpönt! Um „sozialdemokratische Konzepte“ jenseits sozialdemokratischer Regierungsstuben weiterzuentwickeln, müsste sich wieder theoretisches Denken einstellen, das der Partei im Zuge ihres Regieren-Müssen-Wahns („Opposition ist Mist“) gründlich abhanden gekommen ist!

 natürliche Profiteure“? Profiteure sind nicht Statisten eines natürlichen oder gottgewollten Zustands, sondern Akteure gesellschaftlicher Machtverhältnisse! Diese zu verändern, ist die Herausforderung, die anzunehmen Kern-Aufgabe der Sozialdemokratie wäre! „Plausible Antworten“ wird sie nicht geben können, wenn sie diese Machtverhältnissen verkennt“

O. S.: „Deutschland war immer erfolgreich, wenn es auf den technischen Fortschritt gesetzt hat. Wirtschaftlicher Erfolg wird auch in Zukunft nur so möglich sein.“

Dieser Satz ist in der gleichen Weise falsch wie z. B. „Deutschland hat über seine Verhältnisse gelebt“ oder „Deutschland geht es gut“.

O. S.: „Ein starker und zuverlässiger Sozialstaat, ist allerdings die unverzichtbare Bedingung dafür, dass sich niemand deswegen sorgen muss.“

Schröder und Genossen waren und sind die Antipoden dieser Forderung, wenn man solche nicht nur als Pflichtübung begreift! Sie vergaßen: Die SPD ist P a r t e i!  Man kann nicht Partei für alle ergreifen! S i e muss sich vorrangig nicht um das Wohl der Wirtschaft kümmern! Das machen mit Erfolg genügend andere. So zu tun, oder zu glauben, man könne es Allen recht machen, verkennt die Realität kapitalistischer Klassen- und Machtverhältnisse, verkennt den aktuellen realen Klassenkampf von oben! Darauf hat die SPD Antworten zu geben und sich nicht als Genossin der Bosse feiern zu lassen!

O. S.: „Gerade wegen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse ist es unabdingbar, die unteren Lohngruppen durch einen substantiellen Mindestlohn abzusichern, der hoch genug ist, um im Alter nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein. Die Sicherheit, die Tarifverträge und Gewerkschaften in der old economy geschaffen haben, ist auch in der digitalen Ökonomie nötig. Sichere Arbeitsverhältnisse sind auch künftig ein wichtiges politisches Ziel. Männer und Frauen müssen auch endlich für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Krippen, Kitas, Ganztagsschulen, qualitativ hochwertige Bildungsangebote an Schulen, Berufsschulen und Universitäten sind weitere wichtige Bedingungen für ein gutes Leben in sich rasant wandelnden Zeiten. Man muss in einer sich immer schneller verändernden Welt das Recht und die Möglichkeit haben, auch im fortgeschrittenen Alter einen neuen beruflichen Anfang durch eine Berufsausbildung oder eine Hochschulausbildung zu suchen. Und das Leben muss auch für Normalverdiener bezahlbar bleiben, deshalb braucht Deutschland gebührenfreie Betreuung und Bildung und bezahlbare Wohnungen. Und ein gerechtes Steuersystem.“

Das sind wunderschöne Ziele! Aber welcher Weg soll dahin führen? Mit einem „Bitte, bitte“ liebe Wirtschaftsmacht- und Kapital- und Geldbesitzer“ ist es nicht getan, alle solche Versuche sind bisher gescheitert.

Ziele zu  z e i g e n,  ohne d a r a u f Antworten zu geben und dennoch fröhlich gewählt werden und regieren zu wollen – das war, kurz gefasst, das dürftige Fazit des Schulzschen Wahlkampfs . . ! Die Wählerinnen und Wähler haben‘s quittiert!

O. S.: „Wirtschaftliches Wachstum wird auch in Zukunft eine zentrale Voraussetzung sein, um eine fortschrittliche Agenda zu verfolgen. Die ökonomische Kompetenz der SPD rührt daher, dass sie weiß, dass alleine aus technischem Fortschritt oder der Digitalisierung kein Wachstum entsteht. Das gelingt nur, wenn sie einher gehen mit einer guten Einkommensentwicklung, auch der unteren Lohngruppen. Das war schon beim Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit so. Das Versprechen des Wohlstands für alle gehörte dazu.“

Ausflucht: „Wirtschaftliches Wachstum“! Es ist eine Binsenweisheit, dass nur verteilt werden kann, was erarbeitet wird! Es sollte hier aber darum gehen, w i e verteilt wird! Und da kann sofort etwas geschehen, da kann immer etwas geschehen – und dies zu wissen, war immer ein Grundgedanke der Sozialdemokratie! Soziale Gerechtigkeit ist nie an wirtschaftliches Wachstum gebunden!

 – Und was heißt „fortschrittliche Agenda“? Für die SPD wäre es wichtiger zu wissen, woher historisch ihre  s o z i a l e  Kompetenz rührt! Ihre ganze „ökonomische Kompetenz“  hat der SPD offensichtlich nicht zum Wahlsieg verholfen. Und nebenbei: das „Wirtschaftswunder“ zeichnete sich nicht durch das „Versprechen“, sondern durch das tatsächliche Wachsen von „Wohlstand für alle“  aus! Und das war in gewissem Grade einer sozialen Nachkriegskompetenz eines  legendären CDU-Wirtschafts-Ministers geschuldet! Da gäbe es doch Fragen zu beantworten!

O. S.: „In der politischen Debatte stellen die einen ausschließlich die offensichtliche ökonomische Prosperität des Landes (und nicht weniger Bürgerinnen und Bürger) heraus und die anderen nur die ebenso offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten. Darin liegt eine große Gefahr. Konsequenz einer solchen jeweils einseitigen Beschreibung der Realität, ist wachsendes Unverständnis und politische Desintegration. Man kann das am Beispiel der USA genau beobachten. Kein Wunder, dass linke und rechte populistische Parteien heute überall Gehör und Anhänger finden, obwohl sie keinerlei praktikable Lösungen vorschlagen. Und kein Wunder, dass Ressentiments und nationalistische Rezepte als Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung nun erneut in der politischen Arena auftauchen. Auch im neuen Bundestag werden sie lautstark vorgetragen werden. Letztlich hilft gegen (rechts)populistische Parteien nur, dass die Volksparteien die richtigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit haben – und verstanden werden. Sie müssen die Problemlösungsfähigkeit der Demokratie unter Beweis stellen.“

Ausflucht: Die Gefahr gehe von einseitigen politischen  D e b a t t e n  aus, wie: hie CDU/CSU mit „Deutschland geht es gut“ und dort die LINKE mit ihrer Kritik an „offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten“!

Und da sollen es d i e  „Volksparteien“ richten: wenn sie nur erst die richtigen          A n t w o r t e n  auf die  F r a g e n  u n s e r e r  Z e i t  haben? Die nächste große Koalition lässt grüßen! 

„Disparitäten“: warum diese verschämt verharmlosende Vermeidung, Kinderarmut, Altersarmut, Bildungsnotstand etc. nicht beim Namen zu nennen? – Der US-Wahlkampf  Hillary Clintons, beweist in der Tat genau, dass ihr und ihrem Land die Ausblendung der von  B e r n i e  S a n d e r s  benannten „Disparitäten“ zum Verhängnis wurde. Aber s i e war die Wunschkandidatin der SPD!

O. S.: „Es geht also um Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung.

Der SPD muss es gelingen Fortschritt und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik und einer unmittelbar daran anschließenden Erzählung zu verbinden. Dabei geht es nicht um eine bloße Addition, sondern das jeweils eine muss sich aus dem jeweils anderen ergeben. Sozialdemokratische Politik muss dafür einstehen, dass Weltoffenheit und Offenheit für den technischen Fortschritt einerseits, sozialer Friede und gerechte Lebensverhältnisse andererseits vereinbar sind. Sie muss eine Politik formulieren, die zeigt, wie Wachstum möglich ist, an dem alle Bürgerinnen und Bürger teilhaben.

Nebelkerze: Fortschritt! Ersetzten wir oben realistischerweise „Fortschritt“ durch Kapitalismus – dann müsste es heißen: der SPD muss es gelingen, Kapitalismus und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik… zu verbinden… Bis heute ist es leider nie gelungen, soziale Gerechtigkeit  darum sollte es doch gehen?  mittels p r a g- m a t i s c h e r  Politik durchzusetzen. Es scheint hier eher um ein pragmatisches Umdefinieren von „Sozialer Gerechtigkeit“ zu gehen, so, dass dieser Begriff verschwinden kann – wie tendenziell in diesem Text!

 – Schon jetzt haben alle Bürgerinnen und Bürger teil am Wachstum – allerdings je nachdem: an wachsendem Reichtum oder an wachsender Armut!

O. S.: „Und sie muss angesichts der begrenzten Handlungsspielräume der Nationalstaaten in Europa für die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer Gemeinschaft stehen, die Fortschritt und Gerechtigkeit heutzutage sichern kann und politisch auch sichern will. Im Unterschied zu den populistischen Parteien muss sie eine proeuropäische Partei sein. Nur die Europäische Union verschafft der Demokratie in der veränderten Welt die Möglichkeit, „to take back control“, wie die Brexiteers verlangten. Sozialdemokratische Politik unterscheidet sich von konservativer oder liberaler, weil sie das im Interesse der Bürgerinnen und Bürger erreichen will.“

Ausflucht: „begrenzte Handlungsspielräume“: Es gibt noch immer genug politischen Handlungsspielraum, obwohl Politik, auch exekutiert durch sozialdemokratische Politiker, sich durch lobbyistische Gesetzgebung zunehmend selbst entmachtet! Möglich wäre zum Beispiel Umverteilung von Oben nach Unten durch eine gerechtere Steuergesetzgebung, die die systemische „natürliche“ Umverteilung von Unten nach Oben, die auf puren wirtschaftlichen Machtstrukturen und Klientelpolitik beruht, wenigstens partiell ausgleichen könnte! Auf europäischer Ebene ist es nicht nur „a n g e-  s i c h t s“ einer sich aus dem Wesen einer solchen Union heraus logisch ergebenden und ja auch gewollten Begrenzung bzw. Verschiebung von nationalen Handlungsspielräumen unabdingbar, sondern   g e n e r e l l, eine   s o z i a l e,  eine im Interesse der Bürgerinnen und Bürger handelnde Union zu schaffen und deren Charakter und Leitbild neu zu definieren und genau wie auf nationaler Ebene, alle für dieses Ziel bereite Parteien und Bewegungen zusammenzuschließen!  N u r  proeuropäisch zu sein, ist kein Wert an sich! Unter der gegebenen personellen und ideologischen Ausrichtung der SPD müssen solche „Erzählungen“ allerdings in Regionen utopischer Märchenwelten verwiesen werden – bei schonungsloser Betrachtung!

O. S.: „Anerkennung

 Eine Einsicht wird für die Zukunft der sozialen Demokratie zentral sein. … … die höhere Durchlässigkeit, die unser Bildungssystem bietet, bedeutet keineswegs, dass sich die sozialen Fragen damit erledigt hätten. … Noch wichtiger ist aber die Einsicht, dass ein gelungenes Leben auch ohne Hochschulabschluss möglich ist und möglich sein muss. …wer Metallbauer, Lagerarbeiter oder Krankenpflegerin werden und das auch bleiben will, hat im Leben nichts falsch gemacht. Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien, klingt aber manchmal so. Und darin liegt eine Kränkung fleißiger Bürgerinnen und Bürger, die sie auch empfinden. Denn eine Friseurin, eine Postbotin oder ein Altenpfleger findet Bestätigung im Beruf, verrichtet die Arbeit gewissenhaft und hat ein hohes Berufsethos.“

Ausflucht: Populistisch wird die Problemursache verschoben auf „Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien“!  Hat die SPD nicht lange genug mitregiert um kraftvoll für eine nicht zuletzt auch  m a t e r i e l l e  A N E R K E N N U N G der unterprivilegierten Berufe kämpfen zu können? Die Wiederentdeckung der Postbotin, der Friseurin etc. und deren Berufsethos ist in diesem Zusammenhang eher beschämend. Dem Geist des Neoliberalismus ist leider auch die Führung der SPD erlegen und gerade das Schicksal der Postbotin und vieler anderer Berufsgruppen wurde durch ihr u. a. von Privatisierungswahn bestimmtes Regierungshandeln nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen!

O. S.: „ … der Verweis auf die Durchlässigkeit [des Bildungssystems – J. A.] rechtfertigt nicht, dass sich die Politik etwa nicht dafür engagiert, die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven ungelernter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern. Tut sie das nicht, klingt die einst fortschrittliche Forderung nach dem Aufstieg durch Bildung in den Ohren weiter Teile der Bevölkerung nach einem elitären Abgrenzungsmerkmal. Das kann zu gesellschaftlicher Spaltung und auch zur Abwendung von demokratischer Politik führen.“

Dieses Dozieren über Risiken und Nebenwirkungen falscher Sozial- und Bildungspolitik verwechselt Ursache und Wirkung und lenkt von Verantwortung ab ins Ungefähre, hin zu den „Ohren weiter Teile der Bevölkerung“. Das Versagen der Politik führt nicht zur Spaltung der Gesellschaft, sondern ist Ausdruck dieser Spaltung, die im gegebenen Rahmen nur verschärft oder gemildert werden kann!

O. S.: „… Als Partei des Volkes muss die SPD eine gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellung entwickeln und vertreten, die die Anliegen aufstiegsorientierter Milieus und nichtaufstiegsorientierter Milieus in einem gemeinsamen modernen Projekt zusammenführt.“

In diesem „gemeinsamen modernen Projekt“ der Zusammenführung völlig neu kategorisierter Milieus werden sich, in ihren „Anliegen“ versöhnt, Bettler und Millionär treffen wie einst im Paradies Löwe und Reh! Dies wird und kann nur das Werk einer Sozialdemokratischen Einheitspartei Deutschlands sein!

O. S.: „Volkspartei und Regierungsverantwortung

Die SPD ist die älteste demokratische Partei Deutschlands und eine der ältesten Parteien der Welt. Sie ist immer eingetreten für Freiheit, Demokratie und Recht. Und für den sozialen Zusammenhalt.“ Das mit dem sozialen Zusammenhalt kam bei Bebel noch nicht vor! Da hieß es noch Klassenkampf und Sozialismus! 

O. S.: „Sie war immer eine von vielen Mitgliedern getragene Partei. Den mühseligen Aufstieg zur führenden Partei in der Bundesrepublik während der sechziger Jahre hatte sie durch die Wandlung zur Volkspartei, die Mitglieder und Wähler in allen Schichten und Milieus der Bevölkerung sucht, vorbereitet. Die progressive (!) Volkspartei SPD stellte sich so auf, dass schließlich von 1969 an dreizehn Jahre lang große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mochten. Auch heute gilt: Die SPD muss progressive Volkspartei sein wollen. Und die SPD muss die Regierung führen wollen. Beide Ziele bedingen einander.“

Dass die SPD die älteste demokratische Partei Deutschlands ist, macht ihren Zustand nicht besser. Besser wäre, die Gründe ohne Ausflüchte zu suchen, die unsere Partei in diesen desaströsen Zustand versetzt hat! Was war es, dass viele Wähler nach der Brandt-Ära ihre Gunst vorzugsweise anderen Parteien oder dem Nichtwählen schenkten? Was verursachte das Schwinden der Wählergunst nach Schröders Fahrt mit vollen Segeln und dem „Schröder-Blair-Papier“ an Bord in neoliberale Gewässer? War es dieses Papier, das als die letzte theoretische Leistung und als eminente Fehlleistung  in die Geschichte der Partei eingehen wird? Ein Papier, das zuerst wegen des negativen Echos an der Parteibasis wieder im Schreibtisch verschwand, dessen Geist dann aber schließlich doch noch glücklos, in Hartz-Gesetzgebung und Agenda 2010 gegossen, siegte! – Auch wenn stupid beteuert wird, es sei nicht alles daran schlecht gewesen: diese von dem Machern für progressiv gehaltene neoliberale „Wirtschaftskompetenz“ und die entsprechende neue Ausrichtung der Partei war die tiefere Ursache für den Verlusts hunderttausender Genossinnen und Genossen!

 – Fürwahr, die SPD ist eine andere geworden, seitdem sie sich, konkurrierend mit den anderen „demokratischen Parteien“ in der Mitte tummelt! Als die Wählerschaft der SPD unter Brandt die Regierung ihres Landes anvertrauten, hatte die Partei ein Projekt, das sich in der damaligen Situation „links“ nennen durfte, und das von rechts als kommunistisch, das es nicht war, ge(t)adelt wurde! Nein, nicht bei allen biederte sich jenes Projekt an! Aber es hatte die Unterstützung sowohl der Arbeiterschaft als auch der geistigen Elite! Was für ein Aufbruch damals! Und heute? 

O. S.: „Gibt die SPD den Anspruch Volkspartei zu sein auf, wird sie nur (noch) die erreichen, die mit ihr fast vollständig übereinstimmen. Politik lässt sich aber nicht auf eine Geschmacksfrage (?) reduzieren. In einem Parlament mit nun sechs Fraktionen ist die Gefahr groß, dass die Parteien angeschaut werden, wie das Warenangebot in einem Supermarkt. Und da wechseln eben die Vorlieben schnell. Vor allem wenn die Parteien sich selber bloß wie das aktuell günstigste Angebot anpreisen.“

Ausflucht: Statt „Schonungsloser Betrachtung der Lage“: Pseudoargumente für ein neues Weiter-So! Der Anspruch, schlicht Volkspartei  s e i n  z u  w o l l e n, als gäbe es ein schlichtes Volk, wird die SPD nicht retten. Weil Scholz, vermutlich ideologisch befangen, Klassenfragen negiert und sie zu Geschmacksfragen macht, wird letztlich genau das passieren, was er anprangert! Da die SPD für alle dasein will, wird ihr am Ende zwangsläufig nichts anderes übrigbleiben, als ein Gemischtwarenangebot zu offerieren, in dem, so die fatale Hoffnung, das Volk dann schon je nach „Geschmack“ etwas passend Wahlmotivierendes finden wird. Nur, noch einmal: so ein Volk, von dem seit eh sowohl „ideologiefrei“ als auch ideologisch vorzugsweise von Diktatoren geträumt wurde, gibt es nicht!

O. S.: „Die SPD kann daher, wenn sie nicht mehr Volkspartei sein wollte, zerrieben werden zwischen den konservativ beharrenden Parteien und denen, die unrealistische aber stets weiterreichende Forderungen aufstellen. Und nur über das Integrationsprojekt Volkspartei, kann die mit ihr verbundene – in der politischen Geschichte seltene – Kombination von lebensweltlicher Liberalität und Zusammenhalt gelingen. Die SPD muss für mutige Reformen stehen, die vernünftig sind und an deren Umsetzung man glauben kann. Sie wird aber zwangsläufig an Zustimmung verlieren, wenn sie sich auf den Wettbewerb der schrillsten Töne einlässt.“

Die SPD, wenn sie so weitermacht, und nichts deutet, schon unterm Aspekt der Personalfrage, darauf hin, dass sich Grundlegendes ändern könnte, wird zwangsläufig im Parlament zerrieben werden! Nicht selten, sondern nie gelang auf Dauer eine so naiv für möglich gehaltene „Kombination“: „Zusammenhalt“ plus „Liberalität“, was ja auf nichts anderes hinausliefe als: Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche in einer durch „Liberalität“ gesetzlich geschützten Ausbeutergesellschaft. Von allen Seiten, je unterschiedlich motiviert, wird man ihr ihre „lebensweltlichen“ Illusionen  unter die Nase reiben!

 – Das Wahlvolk lässt sich bekanntermaßen leichter verführen, wenn es verarscht wird und sich dementsprechend fühlt! Schon allein aus purer Verantwortung vor den Folgen nicht gezogener Lehren aus der Geschichte muss die SPD sich dringend und ehrlich mit dem rationalen Kern der noch immer virulenten Frage auseinandersetzen: „Wer hat uns verraten …?

1965, nach der Bundestagswahl schrieb Herbert Marcuse, selbst 1919 kurz Mitglied der SPD, an Theodor W. Adorno, der SPD gewählt hatte: „Die deutschen Wahlen sind ausgegangen, wie du es vorausgesehen hast. Ich hätte bestimmt nicht SPD gewählt. Die Niedertracht dieser Partei macht sie auch zum <geringeren Übel> untauglich. Sie wagt es, noch den Namen zu führen, den sie einmal hatte, als Karl und Rosa ihr angehörten. Und sie wird den kommenden Faschismus genau so wenig verhindern wie die CDU.“ Das sind düstere, böse Worte; ihre prophetische Mahnung sollte dennoch nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden!

O. S.: „Stellt die SPD sich als progressive Volkspartei so auf, dass große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mögen, wird sie bei Bundestagswahlen auf neue Erfolge hoffen können. Und deshalb muss die SPD in Fragen der Außenpolitik, der Europapolitik, der äußeren und der inneren Sicherheit, der Wirtschaftspolitik, des Umgangs mit öffentlichen Haushalten aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger im höchsten Maße kompetent sein. Kompetenz ist auch wegen“ auch deswegen? „der Migration gefragt, die die europäischen Gesellschaften vor neue Aufgaben stellt. Je unwirtlicher und unsicherer die Welt wird, je mehr wird diese Kompetenzerwartung an Bedeutung gewinnen.“ Nun, da sollte die Kompetenzerwartung doch rasch erfüllt werden können! „Da handelt es sich keineswegs um eine nebensächliche Frage.“ Genau! „Wollen viele Bürgerinnen und Bürger, dass die SPD die Regierung führt, kann sie schnell zehn Prozentpunkte zulegen. Dann kann sie auch aus Bundestagswahlen als stärkste Partei hervorgehen und daraus einen Auftrag zur Bildung einer Regierung ableiten.“ Dieser überraschenden Logik wird man plausibel nicht widersprechen können! „Die plötzlich ansteigenden Umfragewerte zu Beginn des Jahres 2017 haben eindrucksvoll diesen Zusammenhang demonstriert. Es war eine hoffnungsvolle Projektion der Wählerinnen und Wähler, die erneut möglich ist, wenn sie es plausibel finden, dass die SPD diese Erwartungen erfüllt.“ Die Wähler haben aber ihre „Projektion“ letzthin nicht lange plausibel gefunden! 

 – Die Zauberformel Aufstellung als „progressive Volkspartei“ und der Blick in die Zukunft, was dann alles w i r d sein können, wird nicht viel helfen! Immerhin, einen Anflug von Selbstkritik enthält sie: denn mitgesagt wird, was doch hätte längst sein können! Und es wird mitgefragt nach Verantwortung! Eine Vertiefung dieser Frage verbietet sich jedoch leider von selbst, wenn nach herber Niederlage Geschlossenheit als erste Parteibürgerpflicht gefordert wird – von der alten Mannschaft!

O. S.: „ …“

Klare Grundsätze

Die SPD regierte vor allem nach den Wahlerfolgen 1998 und 2002 in mancher Hinsicht anders, als die Wählerinnen und Wähler nach dem Eindruck aus dem Wahlkampf erwarteten. Die große Koalition 2005 startete mit einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung, die im Wahlkampf zuvor noch heftig bekämpft worden war. Das hat strukturell Vertrauen gekostet.“

Ungeschminkt: das war Wahlbetrug und ein überflüssiges Geschenk an den Koalitionspartner. Ob strukturell oder nicht, es hat Vertrauen gekostet – kostbares!

O. S.: „Und das ist hochgefährlich, denn Vertrauen ist die wichtigste Währung der Politik. In dieser Hinsicht hat sich die SPD am Ende der gerade ablaufenden großen Koalitionsregierung nichts vorzuwerfen.“

Tatsächlich, die SPD war zuverlässiger Koalitionspartner – gegenüber CDU/CSU! Erst in der letzten Bundestagssitzung zog Andrea Nahles, von ihrer avisierten neuen Rolle als Oppositionsführerin sichtlich beeindruckt, so vom Leder, dass Merkel nur noch irritiert und dann amüsiert staunen konnte.

O. S.: „Sie hat, obwohl nur der kleinere Partner, eine beachtliche sozialpolitische Erfolgsbilanz. Auch im Hinblick auf Fragen der Liberalität besteht die SPD diesen Test, wenn man auf die fast vollständige Abschaffung der Optionspflicht für in Deutschland geborene junge Leute schaut, die nicht mehr zwischen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern wählen müssen. Oder wenn man die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare betrachtet. Auf dem Vertrauen, dass diese unter Beweis gestellte Verlässlichkeit ermöglicht, kann aufgebaut werden. Als Lehre für die Zukunft taugt diese Rückbetrachtung aber auch. Die SPD darf nicht anders regieren, als sie zuvor in einer Wahlkampagne angekündigt hat. Schon bei der Erstellung der Wahlprogramme muss das bedacht werden. Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.“

Ausflucht: Eigentlich hat man in der Großen Koalition alles richtig gemacht, nur in früheren Regierungs- bzw. Mitregierungszeiten sind Fehler gemacht worden! Und nun erst hat sich das auf das Wahlergebnis ausgewirkt? Der Wähler sozusagen ein geistiger Spätzünder? Seehofer immerhin, die Erschütterung war ihm noch anzumerken: „Wir haben verstanden!“ Hier nur nochmal oberlehrerhafte Schelte für Müntefering und Schröder: „Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.“  

O. S.: „Die SPD wird seit längerem als zu taktisch wahrgenommen. Diese Wahrnehmung darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Denn wenn Reformvorstellungen als nicht ernstgemeint angesehen werden oder als Vorschläge, die präsentiert werden, um Wählerinnen und Wähler anzusprechen und nicht, weil sie der SPD wichtig sind, dann sind sie auch nur die Hälfte wert. Überwinden kann man diese Wahrnehmung nur mit Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik. Und wenn die SPD verstanden wird anhand ihrer Grundsätze.“

Verschämte halbe Wahrheit: die „Wahrnehmung“ sei schuld! Aber das Problem ist, dass es die Wahrnehmung von etwas Realem ist: der fehlenden „Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik“ und damit von etwas für den Zustandder SPD Substanziellem! Dessen Überwindung Olaf Scholz hier zurecht für die Zukunft anmahnt.

 – Keine Partei wird verstanden „anhand ihrer“ Grundsätze! Schon der Apostel forderte seine Gemeinde auf: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“ (1. Johannes 1, 2-6)

O. S.: „Und die SPD muss konkret sein, auch wenn es um soziale Gerechtigkeit geht.“ Ja, selbst da! „Nur anhand konkreter Vorschläge bleibt der Begriff nicht abstrakt. Nur konkrete Vorschläge können auch politisch wirkmächtig werden. … eine deutliche Steigerung des Mindestlohns, die Abschaffung der Möglichkeit, Arbeitsverträge ohne Sachgründe zu befristen, das Recht nach vorübergehender Teilzeitbeschäftigung wieder Vollzeit zu arbeiten, die Stabilisierung des Rentenniveaus, paritätische Beträge in der Krankenversicherung, die massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, Gebührenfreiheit in Kitas, Ganztagsschulen, ein Rechtsanspruch auf eine neue Berufsausbildung im fortgeschrittenen Alter, Breitbandverkabelung als Grundversorgung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland, die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Unterkunft Arbeitsloser, … Entlastungen bei den Beträgen für Geringverdiener und steuerliche Entlastungen für untere und mittlere Einkommen. Die SPD hat diese und noch mehr konkrete Vorschläge. Sie muss sie auch benennen.“

Ausflucht: Die SPD habe ihre in der Tat beeindruckenden „konkreten Vorschläge“ nur nicht benannt! Warum nicht? Es wäre der genau berechtigte Vorwurf zu befürchten gewesen: ja warum habt ihr das alles nicht schon längst durchgesetzt?! Die Rede vom „Respekt“ vor der Lebensleistung der „hart arbeitenden Menschen“ und was man alles tun wolle, wäre man nur erst Kanzler, war offensichtlich nicht hinreichend für einen Wahlsieg! 

O. S.: „Es geht um viel. Überall in Europa haben die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien an Zustimmung eingebüßt. Manche sind fast oder gar vollständig verschwunden.“

Haben auch diese anderen Parteien ihre tollen Ideen nur nicht genügend propagiert? Die Angst vorm Verschwinden ist verständlich, scheint aber kein guter Ratgeber zu sein! Die selbst geforderte und notwendige schonungslose Betrachtung geht anders!

O. S.: „In Deutschland, vielleicht das Kernland der sozialdemokratischen Idee, ist es unsere Mission, die Zukunft der sozialen Demokratie neu zu beschreiben.“

Nebelkerze: „sozialdemokratische Idee! In der Tat  w a r  Deutschland einmal  –„vielleicht“ – ihr Kernland. Aber darüber zu schweigen, was einmal zu je anderen Zeiten inhaltlich mit „sozialdemokratisch“ verbunden war, und immer so zu tun, als sei die heutige parteiamtliche Interpretation auch die gestrige gewesen, ist unredlich! Genau vor hundert Jahren setzten die Bolschewiki ihre Hoffnung auf eine Revolution in jenem „Kernland… – „da war die deutsche Sozialdemokratie allerdings schon nicht mehr die August Bebels und seiner Genossen.

O. S.: „ … In manchen Ländern Europas kann man nur noch wählen zwischen einer sozialstaatlichen Partei mit lebensweltlich antimodernen Vorstellungen und Ressentiments auf der einen Seite und einer streng wirtschaftsliberalen Partei mit modernen Vorstellungen zum Zusammenleben auf der anderen. Das ist ein Drama für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder.“

Statt Analyse: nebulöses, implizit denunziatorisches Reden über politische Zustände und Parteien in „manchen Ländern“. Ist „sozialstaatlich“ schon zum Unwort geworden? Oder ist „staatssozialistisch“ gemeint, das man anderen linken Parteien unterschieben will, um die fehlende Solidarisierung mit diesen Parteien und die politische Distanzierung zu legitimieren, wie im Fall von Podemos, Syriza, Corbyns Labour Party u. a.?

O. S.: „Die Erneuerung der SPD kann nur entlang klarer Grundsätze gelingen. Sie bedient niemals Ressentiments. Sie ist modern, besonders weil sie für die Gleichstellung von Männern und Frauen steht. Sie ist modern, weil sie auch die Perspektive einer lebenswerten Umwelt verfolgt. Die SPD muss als weltoffene, europafreundliche, fortschrittliche, liberale und soziale Partei beweisen, dass mit einer mutigen und pragmatischen Politik eine bessere Zukunft auch in unseren sich schnell wandelnden Zeiten für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes möglich ist.“

Klare Grundsätze“ fordern und Unschärfe liefern: Seit wann ist Modernität ein sozialdemokratisches Kriterium? – Es sieht so aus, als solle hinter diesem leeren Begriff die Kernkompetenz der Sozialdemokratie zum Verschwinden gebracht werden, die noch immer „soziale Gerechtigkeit“ war.

Alles was die SPD nach Olaf Scholz und Genossen laut diesem Papier sein müssen sollte – weltoffen, europafreundlich, fortschrittlich, liberal und sozial – schreiben sich u. a. auch CDU/CSU auf ihre Fahnen! Das zeigt nur allzu deutlich, wo die Partei angekommen ist: in der bürgerlichen, systemkonformen Mitte, dort, wo angeblich nur Wahlen gewonnen werden können. Dies ist ein gefährlicher Irrglaube. Die SPD wird dort nur noch verlieren können. Wir dürfen nicht der Illusion unterliegen, es werde sich in Deutschland, ähnlich den us-amerikanischen Verhältnissen, die Parteienlandschaft so entwickeln, dass aus der Mitte heraus SPD und CDU – die anderen marginalisierend – die Regierungsgeschäfte alternierend oder gemeinsam werden übernehmen können! Dieses Modell kommt auch in den USA sichtlich in die Krise.

R e s ü m e e

Die Erneuerung der SPD wird unter anderem nur dann gelingen, wenn sie den ernst zu nehmenden gesellschafts- und wirtschaftstheoretischen Diskurs aufnimmt, in dem, nicht zu unrecht, die Marxsche Kapitalismuskritik zunehmend eine prägnante Rolle spielt, nur dann, wenn sie zurück zu ihren Wurzeln findet, anstatt mit immer neuen ideologischen Konstruktionen und Umdeutungen ihrer Werte zu versuchen, den klaren Blick auf die unsozialen Wirklichkeiten mit all ihren Gefahren für die Zukunft der Menschheit zu verkleistern! Dazu gehört auch, sich von von einer bedenklichen Technologiegläubigkeit zu trennen! Technologie, so zeigt uns die Geschichte, kann Lebens- und Arbeitswelt unerbittlich und rasant verändern, nie aber war sie, im gesllschaftspolitischen Kontext, auch nur im Ansatz ein Garant für Gerechtigkeit! Es gibt in unseren Breiten zwar nicht mehr das klassische bis aufs Blut ausgebeutete Industrieproletariat – das wurde teils saniert und gut integriert, teils in fernere Gegenden ausgelagert (externalisiert), aber: an seine Stelle ist, auch bei uns, ein ständig wachsendes Heer raffiniert prekarisierter Menschen getreten. Sich deren Schicksal zu widmen, sollte wieder Kernaufgabe der SPD und aller sozialdemokratisch sich nennenden Parteien werden. Nur dann trügen sie ihren Namen zurecht! Im Kampf um „soziale Gerechtigkeit“ und „eine bessere Zukunft“ muss sozialdemokratische Theorie und sozialdemokratische politische Praxis, ganz gleich ob in Regierungs- oder Oppositionsverantwortung, ihren Horizont über die bestehenden zerstörerischen neoliberal-kapitalistischen Verhältnisse hinaus erweitern!

 

 

 

Ernst Moritz Arndt, der fatale Patron

2 Mär

Was noch täglich in der Greifswalder Ostseezeitung gegen die Umbenennung der Greifswalder Universität zu lesen ist, zeigt die ganze Fatalität dieses Patrons, und dass wir auch hier, wo alles angeblich mit fünfzigjähriger Verspätung eintritt, zügig im postfaktischen Zeitalter angekommen sind!

Besser und historisch gerechter als Jörg Schmidt kann man den „Geistesheroen“ Arndt, grade auch   i n  und  a u s   s e i n e r  Z e i t   h e r a u s,   nicht würdigen!

Fataler Patron

Noch immer tragen deutsche Schulen, Kasernen und eine Universität den Namen des völkischen Ideologen und Antisemiten Ernst Moritz Arndt
Von Jörg Schmidt
24. Februar 2009, 11:26 Uhr / Editiert am 30. Juli 2009, 16:17 Uhr / Quelle: (c) DIE ZEIT 5. 11. 1998

Im April 1933, die neue Ära hat gerade begonnen, beantragt der örtliche Leiter des Stahlhelms Professor Walter Glawe, der Greifswalder Universität den Namen Ernst Moritz Arndt zu verleihen. Pflichtgetreu folgt der Senat der Hochschule dem Antrag. Im Mai 1933 dann endlich aus Berlin der positive Bescheid vom preußischen Staatsministerium: „Der Universität Greifswald, an der Ernst Moritz Arndt als Student und Hochschulprofessor stets für die Freiheit, die Ehre und die Macht des Deutschen Vaterlandes an erster Front gekämpft hat, wird hiermit der Name ,Ernst Moritz Arndt Universität‘ verliehen.“

Genau zehn Jahre später: Auf der Gründungsversammlung des Nationalkomitees Freies Deutschland im Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau berufen sich die soldatischen Widersacher Hitlers auf Ernst Moritz Arndt. Hatte er nicht vorausschauend in seinem Soldatenkatechismus gepredigt, daß selbst ein Fahneneid auf den Führer einen deutschen Soldaten nicht binde? „Denn wenn ein Fürst seinen Soldaten befiehlt, Gewalt zu üben gegen die Unschuld und das Recht, (…) müssen sie nimmer gehorchen.“ Ernst Moritz Arndt wird zum Kronzeugen der antinationalsozialistischen Propaganda des Komitees. Überall ist er präsent. Die Anfangstakte seines Kampfliedes Der Gott, der Eisen wachsen ließ bilden das Erkennungszeichen der Radiosendungen. Und die Grabenlautsprecher des Komitees beschallen die Gegenseite mit Arndts pathetischen Worten zu deutscher Soldatenehre.

Zur selben Zeit (1943) veranstaltet die Ernst Moritz Arndt Universität in Greifswald eine Arndt-Woche. Auch hier dienen seine Schriften der moralischen, soldatischen und nationalen Aufrichtung: zur Stärkung des nationalsozialistischen Kampf- und Durchhaltewillens nach Stalingrad.

Und noch einmal Arndt, zwanzig Jahre später: Nachdem die Greifswalder Universität seinen Namen 1945 zuerst inoffiziell abgelegt hatte, folgt 1954 die Kehrtwende. Der Senat der Hochschule beschließt die Wiedereinsetzung des Namens. Im August 1954 teilt der Staatssekretär für Hochschulwesen der Hochschule mit, daß, da der Name der Universität nach dem Krieg nie aufgehoben worden sei, die Universität weiterhin den Namen Ernst Moritz Arndt Universität trage. Und er gibt zu bedenken: „Wir empfehlen (…), bei passenden Anlässen (…) das grosse patriotische, von den Hitlerfaschisten verfälschte Streben und Wirken Ernst Moritz Arndt’s zu erläutern und aus deren Darstellung anspornende Kraft für die Erfüllung unserer gegenwärtigen Aufgaben zu gewinnen.“

Die Grabenkämpfe zur Inanspruchnahme des Deutschesten aller Deutschen wurden von links und rechts geführt. Betonten die einen den streitbaren Patrioten und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, feierten ihn die anderen als Überwinder Napoleons, als Erwecker der deutschen Nation und nicht zuletzt als unermüdlichen Kämpfer gegen den französischen Erbfeind: „Zu den Waffen! Zu den Waffen! Zur Hölle mit den wälschen Affen! Das alte Land soll unser seyn!“

Bis vor fünfzig Jahren galt Ernst Moritz Arndt als einer der berühmtesten Deutschen. Hatte ihn nicht sogar Friedrich Gundolf 1924 in das Elysium der Geistesheroen erhoben? Neben Luther habe es „keinen gewaltigeren Warner“ und „geisterfüllteren Kritiker“ gegeben. Dies würde zwar heute niemand mehr von dem kleinen knorrigen Vorpommern behaupten wollen. Dennoch ist Ernst Moritz Arndt überall in Deutschland präsent: Straßen, Schulen, Kasernen tragen seinen Namen – und, nach wie vor, die Universität in Greifswald. Die Frage ist nur: Können sich Institutionen einer Demokratie, kann sich die Republik wirklich guten Gewissens auf ihn berufen?

Ernst Moritz Arndt, geboren am 26. Dezember 1769 in Groß Schoritz auf dem damals schwedischen Rügen, kommt aus engen Verhältnissen. Sein Vater – noch als Leibeigener geboren – ist Angestellter des Grafen von Putbus, doch bald schon pachtet die Familie ein eigenes Gut auf Rügen. Diese bäuerlich-patriarchalische Herkunft prägt Ernst Moritz Arndt grundlegend, und der Kampf gegen das Zerbrechen der sozialen ländlichen Harmonie wird ihm später ein wichtiges Thema. Von 1791 an studiert er Theologie und Geschichte in Greifswald und Jena. 1794 kehrt er nach Vorpommern zurück, wo er „auf eine unbeschreiblich leichte Weise“ sein theologisches Examen ablegt. Die Bahnen scheinen bereitet für eine klassisch-bürgerliche Existenz.

Doch dann flieht Arndt die ausgetretenen Pfade. Eineinhalb Jahre reist er durch Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien und Frankreich. Auf der Reise gibt er sich als Schwede aus, da der Name eines Deutschen in Europa „stinkend“ geworden sei. Die zentralen Momente von Arndts Denken zeigen sich: Kampf gegen das nationale Unterlegenheitsgefühl, besonders gegenüber der politischen und kulturellen Leitnation Frankreich, und seine Völkerpsychologie. So bewundert er den Nationalcharakter der Ungarn. Anders als die jede Nation nachahmenden Deutschen besitzen die Ungarn einen eigentümlichen „Nationalcharakter, der allein (…) ein Volk macht. Wem dieser Nationalcharakter, dieses Unterscheidende, fehlt, dem fehlt auch ein Land, das ihn zusammenhalte (…).“ Arndts Einschätzung ist gleichzeitig Appell an die Deutschen: Bewahrt euren Nationalcharakter! Verliert euch nicht in kosmopolitischen Träumereien …

Und dann Paris: Mit großen Augen durchstreift er Straßen und Winkel der Stadt. Wie schon in Wien und Budapest zieht ihn seine aufklärerische Libido in die Nähe der Huren, der „Schwesternkongregationen der Straße“. Nicht idealisierend oder dämonisierend – nein: neugierig und fasziniert beobachtet er das Treiben im Hallenviertel. „Nicht einzeln (…) gehen hier die Mädchen und Weiber auf den Fang aus, sondern in ganzen Haufen und oft lauern einige handfeste Kerle im Hinterhalte mit Knüppeln, wenn das geenterte Schiff sich nicht gutwillig schleppen lassen will.“ All seinem späteren Franzosenhaß zum Trotz – noch rühmt Arndt die Franzosen als Nation, die er „ewig lieben“ müsse. Doch seine nationalen Visionen werden diese Reiseerfahrung bald erfolgreich verdrängen.
Deutschland, die Nation wird ihm zur Religion

Zurück in Greifswald, schwört er der Theologenlaufbahn ab und habilitiert sich 1800 als Privatdozent für Geschichte. Mit seinem drei Jahre später erscheinenden sozialreformerischen Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen greift er in das politische Leben ein. Die Schrift macht ihn schlagartig berühmt und führt mit zur Abschaffung der Leibeigenschaft in Pommern 1806.

Doch bald schon geht sein Blick gen Westen. Napoleons Siegeszug durch Europa wandelt den schwedischpommerschen Royalisten Arndt zum deutschen Patrioten. Ein schwedischer Offizier namens Gyllensvärd muß es am eigenen Leib erfahren. Arndt beschuldigt ihn, „ein schlechtes Wort über das deutsche Volk fallen“ gelassen zu haben. Drei Tage später findet das Duell statt. Die Kugel des Offiziers trifft Arndts Bauch. Sechs Wochen strenge Bettruhe für die deutsche Ehre …

Schließlich zwingt Napoleons Sieg über Preußen bei Jena und Auerstedt den soeben ernannten außerordentlichen Professor für Geschichte zur Flucht ins „schwedische Exil“ – hat er doch im ersten Band seiner historischpolitischen Aufsatzsammlung Geist der Zeit (1806) zum Widerstand gegen die französische Expansion aufgerufen. Er fordert eine Wiederbelebung des deutschen Nationalbewußtseins und den Kampf gegen die einseitige Geistigkeit der Zeit.

Bekennend schreibt er 1807 an Charlotte von Kathen: „Mein deutsches Vaterland und seine heilige Sache verlasse ich nicht, so lange noch ein Tropfen Blut in mir warm ist. Ich fühle jetzt inniger als je, daß ich den Deutschen angehöre und keinem andern Volk angehören könnte noch möchte.“

Ernst Moritz Arndt hat sein Thema gefunden: Kampf dem Kosmopolitischen und Rationalistischen. „Es waren die sogenannten Philanthropen, Kosmopoliten in ihren Träumen (…) und wenn man will veredelte Juden (…); sie schlossen die ganze Welt in den weiten Mantel ihrer Liebe ein, aber übersahen nur, daß die Leute zu Hause froren.“ Die Nation wird ihm zur Religion. Arndt ruft die Deutschen zu den Waffen: „Ein einiges Volk zu sein, sei die Religion unserer Zeit, die höchste Religion sei das Vaterland lieber zu haben als Herren, Weiber und Kinder, die höchste Bestimmung des Mannes sei, für Gerechtigkeit und Wahrheit zu siegen oder zu sterben.“
Germanisches Blut darf sich nicht mit jüdischem vermischen

In den Jahren zwischen 1812 und 1814 erreicht er den Höhepunkt seiner Laufbahn. Als „Politoffizier“ des Freiherrn von Stein sitzt er am Zarenhof in Petersburg im politischen Zentrum der russisch-deutschen Erhebung. Die ideologische Vorbereitung des deutschen Kampfes gegen Napoleon, jenes „erhabene Ungeheuer“, ist seine große Aufgabe. In unzähligen Flugschriften fordert er Mut und Opferbereitschaft von den Deutschen. Das Ziel: die Restitution des deutschen Volkes. Die Aufgabe: Kampf gegen die Franzosen und die partikularistischen Interessen einzelner deutscher Fürsten. „Wir ringen um die Wiedererschaffung eines teutschen Volkes aus den Völkchen: das will Gott.“

Arndts Flugschriften predigen und hämmern die neue nationale Ideologie in das Bewußtsein seiner Zeitgenossen. Wie kaum ein politischer Schriftsteller vor ihm trifft er den Ton der einfachen Leute. So wird er tatsächlich zu dem nationalen Volkserzieher. Unermüdlich predigt er Haß gegen den französischen Feind, „das Reich Satans“. Aktuelle Themen werden von ihm so formuliert, daß sie „Zündpulver“ für die Deutschen und „Rattenpulver für die Franzosen“ sind. Doch Arndts Völkerhaß ist nicht nur rhetorisches Mittel der Demagogie, er ist integraler Bestandteil seiner nationalen Ideologie: „Das ist des Deutschen Vaterland / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand / Wo jeder Franzmann heißet Feind, / Wo jeder Deutsche heißet Freund (…).“ Gegen Kampf und Vision haben die Reiseerfahrungen bei Arndt kein Chance.

Nach 1815 ändert sich die Situation. Die Restauration hält Einzug. Arndts massive Fürstenschelte im vierten Teil seines Geistes der Zeit (1818) führt zu einem Eklat. Der Held der Freiheitskriege wird 1820 in Folge der Karlsbader Beschlüsse von seiner Professur für Geschichte an der Universität Bonn suspendiert. Erst im Juli 1840 begnadigt ihn Friedrich Wilhelm IV. Und ein letztes Mal noch steht Arndt – mittlerweile 79jährig – auf der politischen Bühne. Vom „stählernen“ Kreis Solingen gewählt, zieht er 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung ein. Ihm zu Ehren erheben sich die Abgeordneten und singen sein zum Volkslied avanciertes Was ist des deutschen Vaterland? Republikanische Ideen wird Arndt jedoch als rechter Liberaler weiterhin verschmähen. Enttäuscht verläßt er das Parlament nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. Hochbetagt und hochverehrt, stirbt er am 29. Januar 1860 in Bonn.

Bei allem Respekt für den mutigen und zuweilen kauzigen Publizisten – die Basis seines Denkens bildet eine rassistische, in Ansätzen biologistische Völkerpsychologie: Klima und Sprachen grenzen für ihn die Völker naturgesetzlich voneinander ab, die durch göttliche Weisung an ihren Platz auf der Erde gestellt wurden.

Auf gefährliche Weise verändert Arndt das Differenzierungsaxiom Montesquieus, wonach jede Nation sich nach ihren klimatischen und kulturellen Besonderheiten entwickeln müsse. Die prinzipielle Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechts hatte Montesquieu nie in Frage gestellt. Anders Arndt: Völker sind grundsätzlich unterschiedlich. Die Kerne der Nationen – Nation gleich Volk – bilden unveränderliche Nationalcharaktere, die von Gott „verliehen“ wurden. „Die einzige gültigste Naturgrenze macht die Sprache. Die Verschiedenheit der Sprachen hat Gott gesetzt (…). Die verschiedenen Sprachen machen die natürliche Scheidewand der Völker und Länder, (…) damit der Reiz und Kampf lebendiger Kräfte und Triebe entstehe (…).“ Auf zum Kampf der Nationen!

Eine Mischung – „Verbastardung der Nationen“ – muß verhindert werden. Vor allem die mit französischem Blut, das „wie ein betäubendes Gift den edelsten Keim angreift“. So wundert es nicht, daß Arndt auch vor einer Mischung mit jüdischem Blut warnt. Zwar sei durch den Übertritt zum Christentum in der zweiten Generation der „Same Abrahams“ kaum noch zu erkennen, „aber die Tausende, welche die russische Tyrannei uns nun noch wimmelnder jährlich aus Polen auf den Hals jagen wird“, „die unreine Flut von Osten her“, bereiten ihm Bauchgrimmen. Zudem orakelt er von einer jüdisch-intellektuellen Verschwörung, „denn Juden oder getaufte und (…) eingesalbte Judengenossen habe sich der Literatur, der fliegenden Tagesblätter wohl zur guten Hälfte bemächtigt und schreien ihr freches und wüstes Gelärm, wodurch sie (…) jede heilige und menschliche Staatsordnung als Lüge und Albernheit in die Luft blasen möchten.“

Zeitlebens arbeitet Arndt vehement am deutschen Überlegenheitsmythos und an deutscher Mission. Es sei „der kräftige lebensvolle und saftvolle Wildling, Germane genannt“, dem Gott die edelsten geistigen und körperlichen Eigenschaften eingepflanzt habe. „Der Germane und die von ihm durchschwängerten und befruchteten“, also kulturell germanisierten „Romanen“ bilden den Höhepunkt der Menschheitsentwicklung und werden die „umwohnenden Völker fremder Art als Allherrscher beleben und leiten“.

Zu seinem Bedauern stellt Arndt fest, daß die verzagten Deutschen bisher ihre nationalen Möglichkeiten nicht genutzt haben. „Wir spielen doch immer nur noch in deutschen Anfängen (…). Aber ich hoffe, die Deutschen werden (…) in einem großen Volkskampf mit Russen oder Franzosen, der uns zur Vollendung durchaus nothwendig seyn wird, durch den Geist, den sie wirklich vor allen Europäern tragen, endlich einmal ihr volles Volksland und Volksrecht, ihre Weltlehre und ihr Weltrecht erringen (…).“

So werkelt und meißelt Arndt fleißig am Mythos des nationalen Erlösers. „Es wird ja hoffentlich einmal eine glückliche deutsche Stunde für die Welt kommen und auch ein gottgeborener Held, (…) der mit scharfem Eisen und mit dem schweren Stock, Scepter genannt“, das Reich „zu einem großen würdigen Ganzen zusammenschlagen kann“.

Nun wahrlich, Arndts Traum sollte in Erfüllung gehen, dieser Führer kam! Und wenn heute die Universität Greifswald in einem Prospekt davon spricht, daß „,seine‘ Universität (…) in der Tradition auch seiner Ideen“ stehe, so stellt sich die Frage, ob man in Greifswald (und andernorts, in den Kultusministerien und bei der Bundeswehr) überhaupt weiß, was es mit den „Ideen“ des Ernst Moritz Arndt so auf sich hat. 

(http://www.zeit.de/zeitlaeufte/fataler_patron/komplettansicht)
https://www.facebook.com/arndt.bleibt/ 2000 Luftballons für Arndt

22.02.2017 Wo die Vernunft gefühlten Wahrheiten weicht

In Greifswald proben empörte Bürger den Aufstand gegen die Namensänderung der Universität. Dabei geht es längst nicht mehr um den Rassismus Ernst Moritz Arndts – sondern um Identität. Von Hannah Bethke siehe Link: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/streit-ueber-ernst-moritz-arndt-in-greifswald-14887949.html

Universität Greifswald

20 Jan

Die Greifswalder Universität verabschiedet sich von „Ernst-Moritz-Arndt“

Man sollte diese Entscheidung einen weltbürgerlichen Akt nennen, der allerdings, wie sollte es wundern, die Diskussion nicht beendet hat. Durch unreflektierte, ressentimentgeladene und verächtlich machende Äußerungen in verschiedenen Medien fühle ich mich veranlasst, meinen vor sieben Jahren zum gleichen Anlass verfassten „Brief“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen:

Dienstag den 16. Februar 2010                                                                                                                          An die Mitglieder des Senats                                                                                                                          der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald

Sehr geehrte Damen und Herren,

im diskursiven Vorfeld der Entscheidungsfindung und der Abstimmung des Senats über die formelle Aufhebung der Verleihung des Namens „Ernst-Moritz- Arndt Universität“  der Greifswalder Universität aus dem Jahre 1933 erlaube ich mir, Ihnen meine Anmerkungen zur politischen Problematik dieser Angelegenheit zur Kenntnis zu geben.

….

„Anmerkungen zur politischen Problematik der Umbenennung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die Greifswalder Universität will und muss sich der Verantwortung stellen, die ihr aus der aktuellen, öffentlichkeitswirksamen Problematisierung Ernst Moritz Arndts in seiner Eigenschaft als ihr Namenspatron zugewachsen ist.

So wie nach Auschwitz das Verhältnis Deutschlands zu Israel und den Juden auf lange Zeit ein „besonderes“ sein wird, so sollte auch das Verhältnis der Deutschen zu Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein von besonderer Sensibilität geprägtes bleiben.

Wer, wenn nicht die akademischen Vertreter unseres Landes, hätte als Erster diese Sensibilität zu wahren und durch sein Wirken positiven Einfluss auf die politische Entwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens zu nehmen?

Die Heftigkeit, mit der der Streit um die Umbenennung von den verschiedensten Seiten geführt wird, deutet auf eine so von vielen nicht erwartete Aktualität untergründiger Konflikte. Deren politischer Charakter liegt auf der Hand.

Und so wird die zu treffende Entscheidung eine ethisch motivierte politische Entscheidung sein müssen

Zu einzelnen Aspekten:

  1. Arndts Rassenwahn

Arndts unheilvollste  Äußerungen sind Ausdruck einer ideologischen Weltsicht, die ihr Heil suchte in einer Kompensation von ins Allgemeine gehobenen subjektiven Gefühlen des Nichtgenügens und des Zukurzgekommenseins, bei gleichzeitigem Größenwahn, durch das Setzen eines fiktiven „teutschen“ Nationalcharakters. Hierbei steigerte Arndt, unter Verhöhnung alles Undeutschen, die hässliche Seite schrullig-kruder Deutschtümelei wahnhaft ins Vorläufige rassentheoretischer Ideologie, die bekanntermaßen im deutschen Nationalsozialismus ihren schandbaren Höhepunkt erreichte.

2. Arndt und seine Zeit

Nimmt man das entlastend gemeinte Argument ernst, man müsse Arndt in seiner Zeit sehen, so wird man in Bezug auf seine maßgeblichen Äußerungen, die ihn als Namenspatron disqualifizieren,  feststellen müssen, dass Arndt nicht schlechterdings den Zeitgeist bediente, sondern dass er erheblich den „Zeitgeist“ forcierte, indem er als Mann der Worttat das Inhumane, den Ungeist seiner Zeit an vorderster Front schürte. Sein von Sendungsbewusstsein getriebener demagogischer Eifer half mit, dass Humaneres bei seinen Zeitgenossen nicht durchdrang.

Die mitunter plakativ als Argumente „gegen Arndt“ benutzten Zitate  waren keine verbalen Entgleisungen, sondern wohlbedacht platzierte rhetorische „Spitzenleistungen“ seiner ansonsten durch die verschiedensten Fachbereiche deklinierten nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Anschauungen.

 

3. Arndt und die deutsche Einheit

Arndt als Stichwortgeber oder geistigen Schirmherren für die „friedliche Revolution“ reklamieren zu wollen, wäre eine sophistische Meisterleistung. Jedenfalls das, was die Ostdeutschen im „Herbst 89“ bis zum Fall der Mauer unter sich ausmachten, hatte mit Arndt nichts zu tun. Weder das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“, die Rufe, „Gorbi, Gorbi“ oder „Keine Gewalt“ noch die Forderung „Stasi in die Produktion“ bedurften der Inspiration durch Arndt. Das Volk musste nicht agitiert werden. Es hatte sich für einen kurzen historischen Moment von jeder Agitation emanzipiert.

4. Arndt und die Theologie

Wie einer mit „Seinem“ Gott ins Reine kommt, muss jeder mit sich selbst ausmachen. Wer damit aber, wie Arndt, an die Öffentlichkeit geht, setzt sich der Kritik aus.

Zum Ersten: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte …“ (1812). Wenn man dieses Lied nicht in pubertärer Bierseligkeit grölt, sondern das Gedicht bei klarem Verstand auf sich wirken lässt, wird einem bewusst, dass Arndt seinen Gott bedenkenlos instrumentalisiert. Die Nationalisierung Gottes ist ein Rückfall hinter die Botschaft von Himmelfahrt und Pfingsten, ist die primitive Negation der Botschaft des Neuen Testamentes vom Bund Gottes mit allen Menschen. Damit geschieht Arndt, was vielen Fanatikern passiert: Sie gleichen sich ihrem Gegner an. Arndt begibt sich damit auf das „politische“ Niveau alttestamentarischen Gottesverständnisses.

Zum Zweiten: „Ich weiß, woran ich glaube …“ von 1819 muss man nun genau in diesem Kontext verstehen – nicht abstrakt als Ausdruck einer ihm mit den Jahren zugewachsenen Abgeklärtheit, sondern einer pathetisch daher kommenden, sich selbst bestätigenden  religiösen Vermessenheit: „Auch kenn‘ ich wohl den Meister, der mir die Feste baut …“.

An dieser Stelle soll ausnahmsweise direkt auf ein Statement (Anhörung vom 11.12. 2009) aus dem Kreis der Namensbefürworter eingegangen werden, um die Aufmerksamkeit auf eine häufiger im Zuge des Anhörungsprozesses beobachtete unkritische Herangehensweise zu lenken, die Relativierungen begünstigt, mit denen eine ehrliche Aufarbeitung von Geschichte nicht zu leisten ist. Zwei Sätze, die exemplarisch dafür stehen seien hier zitiert.

Professor Staats (Kiel) schreibt:

Erstens: „Als 1933 Arndts Name in den Titel der Universität kam, da war wirklich auch im gebildeten Bürgertum die Vorstellung verbreitet, dass die nationale Bewegung eine „Freiheitsbewegung“ sei.“

Und zweitens: „Am Namen Arndts kam offensichtlich kein wacher Bürger vorbei – bis in den Zweiten Weltkrieg.“

Diese Sätze, offensichtlich als Verteidigung seines bei der Namensgebung 1933 federführend wirkenden Kollegen Glawe gedacht, schreien, so harmlos sie auch scheinen mögen, in ihrer intellektuellen Einfalt geradezu nach einer Hinterfragung ihres historischen Wahrheitsgehaltes:

Wäre da nicht zu fragen: was konstituierte die Bildung des „gebildeten Bürgertums“, dass sich in ihm eine Verwechslung des deutschen Faschismus mit einer „Freiheitsbewegung“ verbreiten konnte? War es nicht eher so, dass der Identifikation des verinnerlichten tradierten Arndt’schen Freiheitsbegriffes mit dem der Nazis schon nichts Wesentliches mehr entgegenstand? Wie hätte sonst ein Theologieprofessor nur wenige Monate nach dem Reichstagsbrand, nach pausenlosen medialen Hasskampagnen und der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie ausgerechnet Arndt als Namenspatron für die Universität vorschlagen können? Konnte dies alles einem gebildeten Bürger entgangen sein?

Auch konnte in der Tat weder ein „wacher deutscher Bürger“ noch eine wache deutsche Bürgerin am Namen Arndts vorbeigekommen sein. Nur, mit welchem Resultat? Der Ruf: „Deutschland erwache“ – vornehmlich zum Einschläfern der Vernunft skandiert – verschreckte gerade die wachesten Köpfe. Viel von ihnen verließen noch rechtzeitig das Land. Die große Zahl ergab sich dem Rausch neuer verheißener nationaler Größe.

Hätte sich hier für den Professor beim Lesen seiner eigenen Sätze nicht selbst die Möglichkeit einer Frage auftun können: ‚Gibt es da vielleicht eine Verbindung zwischen der Rezeptions- und der Wirkungsgeschichte Arndts, dem flächendeckenden Eintrichtern Arndt’scher Verse und Arndt’schen „Gedankenguts“ und der geistigen Verfassung des „wachen“ und „gebildeten“ Bürgertums im Frühling des Jahres 1933? Hätte sein Votum dann noch negativ, gegen eine Umbenennung ausfallen können?

5. Arndt in unserer Zeit, die Stadt und die Universität

„… die Befangenheit in den eigenen Vorurteilen bis hin zum Rassenwahn blieb einKontinuum der Deutschen Geschichte.“ (A. Herzig – „Die Zeit“ 4/2010 S. 78).

Häufig werden von Gegnern der Umbenennung der Universität aus Kreisen der Greifswalder Bevölkerung die engen Verbindungen zwischen Stadt und „ihrer“ Universität argumentativ ins Spiel gebracht. Die Gewichte sind allerdings ungleich verteilt, was dabei gern vergessen wird. Die Stadt lebt wesentlich durch und von der Universität, nicht umgekehrt. Das prägt das Miteinander beider. Über den guten Ruf einer Universität entscheiden offensichtlich andere Kriterien als ihr Name, solange der Namenspatron nicht zur Belastung wird. Der Streit um Ernst Moritz Arndt ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Legte die Universität ihren Namen ab, verlöre die Stadt nichts als eine mehr oder weniger unreflektiert liebgewonnene Gewohnheit. Die Stadt lebt kaum mit, noch weniger durch Arndt. Sähe sich „die Universität“ andererseits gedrängt, auf lokalpolitische Befindlichkeiten und Animositäten Rücksicht nehmen zu müssen („… jetzt wollen sie uns auch noch unseren Arndt nehmen!“) , würde die Stadt zur Belastung für die Universität. Das wäre für keinen gut.

Im Gegenteil: Der Namensstreit bietet all jenen, die den Namen Arndts positiv verinnerlicht haben eine Chance zur Neujustierung ihres Geschichtsbildes. Und – eine Umbenennung überließe Arndt nicht den Rechtsextremen, wie ein irrlichterndes Argument suggerieren will, sondern sie nähme denen eher die Möglichkeit eines peinlichen Verweises: in Greifswald trage selbst eine Universität den Namen dessen, der nach wie vor zu einem ihrer Helden taugt.

Der Universität hat sich die Chance einer Rehabilitierung ihrer Reputation gegeben, nachdem sie unsanft aus dem Dornröschenschlaf einer scheinbar unschuldigen Namensträgerschaft geweckt wurde. Denn unvergessen ist, dass sich auf Initiative und unter dem Beifall verblendeter akademischer Kader die Universität im Frühjahr 1933 freiwillig und in Ergebenheit zum „Führer“ den Namen Arndts zulegte, dessen Visionen sich dank der nationalsozialistischen Bewegung endlich zu verwirklichen schienen. Gleichzeitig, am 7. und 25. April, wurden Gesetze erlassen, mit denen begonnen wurde, Hochschulen und Universitäten von Juden und Andersdenkenden zu säubern und am 10. Mai loderten unter den Augen der Universität auch auf dem Greifswalder Marktplatz die Flammen der auf den Scheiterhaufen geworfenen Bücher.

Deutsche Universitäten erwiesen sich nicht als geistiges Bollwerk gegen die aufziehende Barbarei, sondern als ihr intellektueller Treibriemen. Hinzu kamen traditionell verhängnisvolles politisches Desinteresse, Wegsehen und Verdrängen und der Rückzug in vermeintlich reine Wissenschaft.

Heute lautet die Frage ganz klar, gibt es Gründe, die eine deutsche Universität im Jahre 2010 veranlassen könnten, sich den Namen „Ernst Moritz Arndt“ zuzulegen? Die Antwort darf nicht verweigert werden und muss in die Entscheidung eingehen. Und da die Entscheidung eine politische ist, muss auch die Begründung politisch sein und ethisch motiviert.

Wissenschaftlicher Diskurs, Stellungnahmen, Anhörungen, die unterschiedlichsten medialen Äußerungen und anderes mehr haben den Erfahrungshorizont mit Arndt erweitert und Erkenntnisse über ihn und uns zu Tage gefördert, hinter die zurückzugehen der politische Anstand verbietet.

Ein Festhalten am status quo sollte heute also nicht mehr möglich sein, käme es doch einer erneuten Bestätigung jener beschriebenen beschämenden Vorgänge gleich, und wäre als Rückzug auf angeblich „wissenschaftlich“ nicht Entscheidbares schlicht Verweigerung politischer Verantwortung.“

Ein Schaf in altem Wolfspelz?

10 Nov

 Biermann im Bundestag

„Glaubst du, die Russen wollen, glaubst du, die Russen wollen, glaubst du, die Russen wollen Krieg?‘ Oh nein! Auf gar keinen Fall! Denn da mordet, so weit ich seh‘, Mann, nur Putin, der KGB-Mann! Wer spielt da den blutigen Ball denn? Nur Putin und seine Kanaillen!“

Als Biermann dies – mehr schlecht als recht gereimt – und anderes unlängst bei Deutschlandradio Kultur meinte sagen zu müssen, dacht ich traurig und böse, ach Wolf, Du „uralter Sack“, ich hörte Deinen letzten, historischen Auftritt in Köln am Rhein heimlich des Nachts am Kofferradio, nahm das Konzert auf und versteckte die Kassette so gut, dass ich sie nie wiederfand. Und war beeindruckt, wie Du die alten Politbürosäcke verhöhntest, und sprachlos staunte ich über Deinen Mut, nicht wissend, dass Du keine Rückfahrkarte hattest im Gepäck. Doch jetzt, wo ich Deine Zeilen an Jewtuschenko höre, gefriert mir das Blut in den Adern, und ich schäme mich fremd für Dich, den verbitterten Plänkelsänger!

Kurz darauf dann kam die Meldung: Biermann singt im Bundestag! … Was hat denn den Lammert geritten, einen so hemmungslosen Putin- und Linkenhasser im Hohen Hause zu hoffieren! Nach außen politisch doch ausgesprochen ungeschickt. Und nach innen? Sollte ein Parlamentspräsident nicht auch halbwegs überparteilich agieren? Nun, Lammert meinte wohl, was der Gauck kann, müsse auch er  können wollen – jetzt, wo Deutschland die Gefahr droht, auf internationalem Parkett handlungsunfähig zu werden.

Es wird einen Skandal geben – so oder so!

Und so kommt zur feierlichen Stunde Biermann mit seiner Gitarre, kommt und greift in die Saiten, präludiert zart und lyrisch, zu lang für ein Präludium, bricht dann entschlossen ab sein schönes Spiel und wendet sich nach Links … und das Verhängnis nimmt seinen Lauf … Reich-Ranickis Verdikt über einen Romanschreiber „Er hätte es bleiben lassen sollen!“ rumort verzweifelt in meinem Hirn: Aber Biermann lässt nichts bleiben und nichts aus. Und dann, als Höhepunkt seiner Abrechnung, meint er,  dieser seiner Drachenbrutrestetruppe noch einen letzten Schlag versetzen zu müssen: ‚Nein, sie seien nicht links, nicht links und auch nicht rechts! Sie seien reaktionär‘! Welch Schmähung! Und welch grandiose Verkennung der Realität – in diesem Moment ist nur einer reaktionär – und das ist er! Er selbst. Das Hohe Haus aber hat seinen Spaß und lacht und applaudiert …

Und dann singt Biermann doch noch.

Und er singt:

Du, laß dich nicht verhärten
in dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
die allzu spitz sind, stechen
und brechen ab sogleich.

Du, laß dich nicht verbittern
in dieser bittren Zeit.
Die Herrschenden erzittern
– sitzt du erst hinter Gittern –
doch nicht vor deinem Leid.

Du, laß dich nicht erschrecken
in dieser Schreckenszeit.
Das wolln sie doch bezwecken
daß wir die Waffen strecken
schon vor dem großen Streit.

Du, laß dich nicht verbrauchen,
gebrauche deine Zeit.
Du kannst nicht untertauchen,
du brauchst uns und wir brauchen
grad deine Heiterkeit.

Wir wolln es nicht verschweigen
in dieser Schweigezeit.
Das Grün bricht aus den Zweigen,
wir wolln das allen zeigen,
dann wissen sie Bescheid.

Und wie Du da so singst, kann ich eine Frage nicht verdrängen: Für wen eigentlich singst Du dort im Bundestag, wenn da mehr sein soll als nicht nur ein zum Ritual verkommenes Lied, das uns erinnern mag an die besseren schlechten Zeiten? Für die, die damals im Knast saßen? Für die, die bürgerliche Freiheiten vermissten und sich selbst ermutigend Deine Zeilen auf den Lippen trugen?

Und wen willst Du noch ermutigen? Du, der Du mit Deinen einstigen Idealen längst auch Dein Publikum verloren hast und nun als ein Wiedergänger kalter Zeiten herumgereicht wirst?

DAS gönne ich Dir – NICHT; hätt‘ Dir und uns was Bess’res gewünscht …!

Sarrazin – nur ein Symptom?

22 Apr

oder

der Umgang der SPD mit Sarrazin im Licht des Urteils des Antirassismus-Ausschusses der Vereinten Nationen

Die Berliner Staatsanwaltschaft verbuchte Thilo Sarrazins Thesen in „Lettre International“ (2009) unter Meinungsfreiheit. Der Antirassismus-Ausschuss der UN hat den Rassismus-Vorwurf des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg (TBB) nun bestätigt, und die Bundesrepublik Deutschland als Partner der Antirassismuskonvention aufgefordert, „die im Vertrag festgelegten Bestimmungen konsequenter in das deutsche Recht umzusetzen. “ (s. a. w. dazu Robert D. Meyer in ND vom 19. April 2013)

Das sollte auch die SPD nicht unberührt lassen. Denn Genosse Sarrazin, von deutscher Justiz und SPD-Schiedskommission gedeckt, verbreitete seither seine rassistischen „Meinungen“ unbekümmert und variantenreich weiter (s. a. auf diesem BLOG  Sarrazin und die SPD und Meinungsfreiheit).

Ein Parteiausschlussverfahren scheiterte an der Schiedskommission des Berliner Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf.  „Das zweite Ausschlussverfahren des wegen seiner Integrationsthesen heftig umstrittenen früheren Bundesbankers endete mit einer gütlichen Einigung. Alle vier Antragsteller – darunter die Bundes-SPD – zogen ihre Ausschlussanträge auf Basis einer Erklärung von Sarrazin zurück…“

Gütliche Einigung?

Der Schoß des deutschen Wesens ist fruchtbar noch und gebiert noch immer ein gut Maß rassistischen Dünkels. Unterschwellig auch, nicht immer bewusst, bis tief in die Mitte der Gesellschaft reichend. Auch in die Mitgliedschaft der SPD. Das jedenfalls war aus den Diskussionen um Sarrazins Ausschluss intern und in der breiteren Öffentlichkeit herauszuhören. Und so schien man damals auf Bundes-Ebene erleichtert zu sein, durch das Schiedsgericht, sozusagen demokratisch legitimiert, den Fall Sarrazins juristisch unspektakulär lösen zu können, Weitere Sympathiekundgebungen und Parteiaustritte, die man sich nicht leisten wollte, konnten so verhindert werden.

Heute hat das Urteil des UN Antirassismus-Ausschusses jene Taktik der SPD-Führung eingeholt. Diese muss sich nun fragen lassen, ob ihre Beschwichtigungspolitik im Falle Sarrazin dem antirassistisch-humanen Anspruch der Partei und ihrer Verantwortung, sich schützend vor diskriminierte Bevölkerungsgruppen zu stellen, gerecht wurde.

Muss nicht in einer so wichtigen Frage wie der des Rassismusvorwurfs die Bundesschiedskommission von der Bundespartei, dem Parteivorsitzenden angerufen werden, wenn die unteren Ebenen versagen?

Auch in einer demokratischen Partei gilt, was für eine Demokratie lebenswichtig ist:

Der Aufstand der Anständigen läuft ins Leere, wenn sich ihm nicht der Anstand der Zuständigen gesellt!

Gauck noch mal!

20 Feb

Es ist eine instinktlose Posse: nun muss für’s höchste Amt nochmal der Charakterdarsteller mit den nebulösen neoliberalen Freiheitsvorstellungen aus der parteipolitischen Trickkiste gezogen werden. SPD und GRÜNE können vorerst frohlocken, dass die Kanzlerin nun genau den rotgrünen Kandidaten präsentiernen muss, der allein ihr zum Ärgernis (anders nicht zu verstehen!) von ihnen aufgestellt worden war. Und die FDP darf sich rühmen, die Kanzlerin in diese miese Situation gebracht zu haben und sich sonnen in der Illusion, nichts ginge ohne die FDP.

Aus Umfragen geht hervor, dass Gauck in Sachen Präsidentschaft Volksliebling ist. Auch Volkstribun? Gauck begriff in der DDR: „dass die Wahrheit – ethisch wie politisch – nicht bei der Mehrheit sein muss. Wir erlernten damals die Minderheitenexistenz…“ Werden ihn  s e i n e  damaligen politischen Erfahrungen dazu befähigen, ein Herz auch für heutige Minderheitsexistenzen zu haben, die die von ihm favorisierte Freiheit gebiert?

Eines wenigstens scheint sicher: mit Männern von Charakter, wie sie mit Klaus Töpfer und Norbert Lammert im Gespräch waren, braucht sich die Kanzlerin nicht herumzuschlagen. Von ihnen wäre zu hoffen gewesen, dass sie nicht jedes mit heißen Nadeln und geschmierten Federn fabrizierte Gesetz würden durchgehen lassen. Und gerade das wäre nach den deprimierenden Erfahrungen mit Regierung und Parlament geboten.

Fazit: der Instinkt, was politischer Macht und ihren Ränkespielen nutzen oder schaden könnte, ist noch hellwach. Dafür aber versagt er gründlich bei der Frage, was der ganzen Nation zur Ehre und zum Wohl gereichen würde.

s. a.  Ach Gauck

15. Oktober – weltweit und auf dem Greifswalder Markt

13 Okt


Echte Demokratie jetzt!

Kommt am 15. Oktober von 15.00 – 18 Uhr auf den Greifswalder Marktplatz !

Empört Euch!

Der Empörten-Virus (nd)

Flyer für HGW

7. Oktober 2011 – und zehn Jahre im Krieg!

7 Okt

„Es ist nichts gut in Afghanistan“! Wieviel Prügel hat Margot Käßmann, die unbotmäßige Pfäffin, dafür schon einstecken müssen. Doch der Satz ist darum nicht falsch. Im Gegenteil. Nichts wird besser dort, solange die Interventionstruppen das stolze Land besetzt halten. Die zivilen Opferzahlen steigen stetig. Gottes eigenes Land vergilt alttestamentarisch Terror mit Terror. Mit deutscher Unterstützung! Dabei geht es fast ausschließlich nur noch um Gesichtswahrung wie einst in Vietnam. Aber welches Gesicht soll da gewahrt werden? Wird da nicht nur noch für die dürftig maskierte Fratze der Interessen einer absoluten Minderheit gestorben, der jetzt unverhofft die Protestwelle „Wir sind die 99 Prozent“ entgegenschlägt?

Ich schäme mich für mein Land – dafür, dass unsere Kinder wieder fragen müssen  „Wozu sind Kriege da“

Und ich schäme mich, dass wieder Mütter durch Söhne deutscher Mütter getötete Kinder beweinen müssen.

Und ich schäme mich, dass die mit soviel Verstand begabten Menschen unseres Landes noch so wenig bereit sind, die Zusammenhänge zwischen Ungerechtigkeit, Terror, Krieg und Krisen zu begreifen. 

An diesem Tag sei auch daran erinnert, was Brecht als Wunsch für Deutschland hintersinnig Kindern als Kinderhymne in den Mund legte. Auch heute noch – vielleicht gerade heute – ziemte uns diese respektable Bescheidenheit!

Give Peace a Chance!

Pofalla – Zitat des Jahres

4 Okt

„Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen!“

Dieses skandalträchtige Diktum Pofallas sollte zum Zitat des Jahres gekürt werden. Nicht,weil es den armen Herrn Bosbach (CDU) traf, für den die Sache nach Aussprache und  Entschuldigung offiziell erledigt ist. Auch nicht, weil der arme Herr Pofalla (CDU) nun von seinen heuchelnden politischen Gegnern (parteiübergreifend) erledigt werden soll! Nein!

Sondern: Dieser genervte Aufschrei hat etwas Befreiendes. Endlich, vom konkreten Anlass abgesehen, sagt einer, was jeder andere auch schon mal gern laut gesagt hätte.

Zugleich haben solcherlei Entgleisungen etwas Subversives. Der Grad ihrer Subversivität ist ein Indiz für die Tiefe einer Krise des Politischen, deren Existenz von kaum noch jemandem bezweifelt wird.

Und so könnte es kommen, dass immer öfter so mancher beim Anblick sich staatstragend gebender Wichtigtuerei seine Lippen spitzen und verallgemeinernd bei sich denken wird: „Ich kann eure Fressen nicht mehr sehen!“

Kuder ans Ruder?

17 Sept

W E R  I S T  W I R ?  I C H  (S P D)  N  I C H T !

 

UPDATE: siehe auch Syrbe oder Kuder? – Streit vor der Stichwahl am 18. September

Erwin Sellering – ein Glücksfall für die SPD und für Greifswald

8 Sept

Mecklenburg-Vorpommern hat gewählt! Wenn man es genau nimmt, hat nicht mal die Hälfte gewählt. Ihren Wahlzettel in Empfang genommen haben zwar 51,4 Prozent, aber knapp fünf Prozent haben ihre Stimme verungültigt  für das eigentliche Wählen fielen sie damit aus.

Erwin Sellering, der von der Springer-Presse und anderen vergeblich ob seiner Haltung zum Afghanistankrieg und seiner intelligenten Einschränkung der Unrechtsstaatsdoktrin im Vorfeld der Wahl heftig bekämpft wurde, hat sich den Mecklenburgern und Vorpommern unspektakulär als der bessere Kandidat empfohlen. Seine ruhige und offene Art auf „die Menschen“ zuzugehen, weit entfernt von Arroganz und von auch in seiner Partei grassierender Wirklichkeitsferne, kam im Nordosten unserer Republik gut an und hat ihm die Sympathie seiner Wähler und besonders wohl auch seiner Wählerinnen beschert   in einem Maße, wie er es selbst kaum vermutet haben wird. Mit der Unterschätzung des für die Medien bislang „blassen Kandidaten“ ist es seit der Wahlnacht vorbei. Es herrscht Einigkeit darüber: Dass die Landes-SPD ihr Ergebnis gegen den Trend um 5,4 Prozent verbessern konnte, hat sie Sellering zu verdanken.

Greifswald war bislang eine Hochburg der Schwarzen. Erstmals gab es nun für die SPD in Greifswald bei Landtagswahlen ein Traumergebnis: 27,5 Prozent (CDU 23,4)! Sellering holte in der Hansestadt sein Direktmandat mit 41,4 Prozent, das heißt, 14 Prozent der Stimmen kamen von Wählerinnen und Wählern, die ihre Zweitstimme anderen Parteien gaben.

Der Vollständigkeit halber: für die ansässigen Genossen war das Ergebnis der gleichzeitigen Kreistags- und Landratswahl weniger fulminant. Landratskandidat Ulf Dembski z. B. konnte mit 23,4 Prozent der Stimmen 18 Prozent weniger Greifswalder hinter sich versammeln als sein Parteichef und gerade mal ganze 36 Wähler mehr, als der abgestrafte Greifswalder Bürgerschaftspräsident Liskow (CDU), dem mit seinem Ergebnis der Wiedereinzug in den Landtag misslang.

Nach dem Triumph kommt nun für Sellering die erste, vielleicht gravierendste Bewährungsprobe. Heftig, von Interessen und Begehrlichkeiten geprägt, wird öffentlich und hinter verschlossenen Türen um die Lösung der Koalitionsfrage gerungen. Wenn man gewillt ist, den Trend der Wahl und damit den sogenannten und oft missbrauchten Wählerwillen zur Kenntnis und ernst zu nehmen, bleiben viele Möglichkeiten nicht. SPD, GRÜNE und LINKE haben in der Wählergunst zugelegt, CDU, FDP und NPD haben verloren: CDU relativ viel, FDP desaströs und NPD immerhin signifikant. Anerkanntermaßen sind die Schnittmengen mit den LINKEN größer als die mit der CDU.

Bei allen möglichen machtpolitischen Spielchen, Einfluss- und Rücksichtsnahmen, mit denen zu rechnen ist, bleibt zu hoffen, dass die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie bei den Bürgern durch die notwendigen Entscheidungen nicht geschwächt wird. Die Wahlergebnisse verunmöglichen diesmal das Argument, dass nur mit der einen oder anderen Partei eine stabile Regierung möglich sei!

Wäre noch anzumerken: Das allgemeine und medial verstärkte Erschrecken und Bedauern über den Wiedereinzug der NPD in den Landtag sollte sich in ein ernsthafteres Nachdenken über die Gründe wandeln. Das Problem der sukzessiven Zerstörung einer demokratischen Gesellschaft liegt nicht in ihren Rändern, sondern in ihrer Mitte – denn genau dort ist die Ohnmacht der Politik allenthalben zu beobachten. Oder, wie ich es bei Hans-Dieter Schütt im „Neuen Deutschland“ gelesen habe: „Das rettende Gegenteil von Neonazismus ist nicht Antifaschismus, sondern bleibt: eine funktionierende Demokratie.“ Aber das ist dann auch schon wieder ein eigenes Thema!

Sonderparteitag – Die Entzauberung der Grünen

26 Jun

Die Grünen überlisten sich wieder selbst, und die Medien applaudieren verhalten

Regelmäßig, immer wenn es ernst wird, entzaubern sich die Grünen selbst, wie dies sonst besser nur die SPD beherrscht. Der Parteitag am Sonnabend zeigte, es geht ein prinzipieller Riss durch diese Partei wie durch jene. Das war öffentlich zu besichtigen, aber zugleich wurde es, wie üblich, dementiert. Die Mehrheit der Delegierten folgte schließlich der Parteispitze, der offensichtlich Koalitionsfähigkeit nach allen Richtungen zu demonstrieren wichtiger war, als gesteckte Ziele unbeirrt zu verfolgen.

Diese Rücksichtnahme auf „Freundinnen und Freunde“ und potentielle Wähler aus der bürgerlichen Mitte, die statusbedingt lieber behalten, was sie haben, könnte sich als fatal erweisen; denn diese Haltung ist zynisch, verrät sie doch die Bewegung, an deren Spitze man zu marschieren vorgibt. Das mag zwar zu Ministersesseln führen, aber nicht zu notwendigen politischen Veränderungen.

Jener Riss geht nicht nur durch die Parteien, er geht durch die ganze Gesellschaft. Die Kluft zwischen der herrschenden Klasse und dem „Volk“ wächst unbeirrt – und mit ihr die Wut der Enttäuschten!

Andrea Ypsilanti in Greifswald

14 Jun

Chancen für eine solidarische Moderne – Wege zu einem sozialen und ökologischen Neuanfang

Die „Solidarische Uni Greifswald“  hat Andrea Ypsilanti eingeladen.

    „Andrea Ypsilanti wird am Mittwoch, dem 15. Juni 2011, um 16 Uhr im Roten Salon der Brasserie Hermann über einen ökologischen und sozialen Neuanfang sprechen und mit dem Publikum über Politik, die an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger orientiert ist, diskutieren. Ferner wird sie das „Institut solidarische Moderne“ vorstellen.“

Himmelfahrt – Wohlfahrt – Höllenfahrt

2 Jun

oder, was wir schuldig sind

Stéphane Hessel bezog sich jüngst auf den Begriff der „Empörung“, der für Spinoza zu den verdächtigen Affekten gehöre. Und er meinte, es komme „auf einen durch den Verstand geläuterten Affekt an, der ein Ziel kennt.“

Mathias Greffrath hat in einem wundervollen in NDR Kultur heute gesendeten Text ein Beispiel dafür gegeben: die Dinge, die uns empören, beim Namen zu nennen und uns an unsere Verantwortung zu erinnern. Das Ziel wird deutlich sichtbar, und er macht einen Vorschlag, der so einfach ist – und uns doch so schwer zu machen erscheint. Er legt den Finger in die Wunde unserer epidemisch verbreiteten vermeintlichen Ohnmacht!

Nehmen wir uns die Zeit, in der berechtigten Empörung auch unseren Verstand arbeiten zu lassen. Das sind wir uns und denen, die nach uns kommen, schuldig: damit nicht aus der uns verheißenen Wohlfahrt eine Höllenfahrt wird!

„Was wir schuldig sind“

von Mathias Greffrath

„… Die alten staatsbürgerlichen Pflichten haben wir abgeschafft. Neue müssen wir nun erfinden.
Die Abschaffung der Wehrpflicht wäre eine gute Gelegenheit gewesen, über ein
obligatorisches soziales Jahr für alle Bürger unseres Staates zu reden. Was ist denn eigentlich so peinigend an der Vorstellung, dass junge Männer und Frauen nach der Schule ein Jahr dem Gemeinwesen widmen, von dem und in dem sie leben?

600 000 junge Menschen pro Jahr, die Hauptschülern beim Schreibenlernen helfen, alten Leuten den Computer beibringen oder vorlesen, kommunale Gärten anlegen, als Animateure in Kitas arbeiten, die Öffnungszeiten von Bädern und Museen stabilisieren oder unter Anleitung Häuser energetisch sanieren, und, weniger attraktiv, aber notwendig: Rollstuhl-schieben und Windeln wechseln – das wäre doch ein Ausweg aus einigen Engpässen des verschuldeten Staates und der schrumpfenden Solidarität.

Bei all dem könnten die jungen Staatsbürger Fähigkeiten erwerben, Selbstbewußtsein ausbilden und ihre Lebenspläne überdenken. Vor allem aber könnten die Kinder von Akademikern und Arbeitslosen etwas miteinander erfahren und gestalten, und so ein Bewußt-sein davon entwickeln, was es heißt: Bürger einer Demokratie zu sein.

Sinn machte so etwas freilich nur, wenn es attraktiv und qualifizierend ausgestattet würde, wie immer ist das eine Kostenfrage. Nehmen wir also die luxuriöseste Variante an: Jeder Sozialdienstler erhielte 1000 Euro pro Monat für Leben und Wohnen, und auf jeweils zehn von ihnen käme ein qualifizierter Handwerker, Sozialarbeiter oder Ingenieur als Betreuer, dann ergäbe das jährliche Ausgaben von rund 10 Milliarden. Das wäre wenig mehr als ein halbes Prozent der Geldvermögen, die allein im letzten Jahrzehnt den Wohlstand der Oberen gemehrt haben. Dieses halbe Prozent als Bürgersteuer abzuschöpfen; der demokratische Gegenwert könne enorm sein.

Meine Gesprächen, mit vielen Jungen, und einigen Reichen ergaben: Die Idee ist populär. Vielleicht, weil niemand mit ihrer Durchsetzung rechnet. Aber vielleicht müssten wir nur einen anderen Namen dafür finden. Dienst, Opfer, Ehre, Pflicht – das passt nicht in die Zeit. So wenig, wie „ehrenvoll fürs Vaterland zu sterben“? Oder doch?

Es lohnt sich für Ideen zu sterben, singt Georges Brassens: Mourir pour des idees, oui – und er fügt hinzu: Mais de manière lente. Es lohnt sich sein Leben einzusetzen: für sich selbst, für diejenigen, mit denen man aufgewachsen ist und für’s Weltbeste, auch wenn es nicht unseren Nutzen mehrt. Es lohnt sich, dafür zu sterben, allerdings ganz langsam: ein Leben lang.

Den ganzen Text lesen!

Theater Vorpommern – oder wie man Geschäftsführer entsorgt(e)!

31 Mai

Ein Geheimpapier?

Wie geheim sollten kompetente Kommunalpolitiker für das öffentliche Wohl agieren?

„…mögen Geheimpapiere mit dem Titel „Zusatz zur Niederschricht der außerordentlichen Gesellschafterversammlung der Theater Vorpommern GmbH vom 30.04.2010 -keine Versendung an die Gesellschaft“ veröffentlicht werden und deren Inhalt dem interessierten Publikum auch gern erläutert werden. So kann dann auch ein neuer Intendant neu an’s Werk gehen, ohne dass da noch „Altlasten“ und „Stolpersteine“ im Weg liegen.“ S. Meyer

Ich kann dem Wunsch nach Veröffentlichung gern nachkommen. Erläutern wird es kaum jemand wollen ( s. a.  Bürgerschaftspräsident HST), aber seinen Teil mag dennoch jeder sich denken!

Zusatz zur Niederschrift … vom 30.04.2010-2

Abschrift zur besseren Lesbarkeit: 

„Zusatz zur Niederschrift der außerordentlichen Gesellschafterversammlung der Theater Vorpommern GmbH vom 30.04.2010

–        keine Versendung an die Gesellschaft

Dienstrechtliche Maßnahmen

Herr Albrecht informierte die Mitglieder der Gesellschafterversammlung, dass Herr Dr. Ickrath um einvernehmliche Auflösung seines Dienstvertrages telefonisch gebeten habe unter der Bedingungung, dass die staatsanwaltlichen Ermittlungen* eingestellt werden.

Er möchte 1/3 seiner vertraglich vereinbarten Gesamtbezüge als Abfindung. Er akzeptiert die Zahlung der Abfindung in Raten, um die derzeitige Liquidität im Unternehmen zu schonen.

Herr Dr. Steffens bemerkte, dass für den Fall der Anklageerhebung der Grund einer außerordentlichen Kündigung gegeben ist.

 Die Universitäts- und Hansestadt Greifswald stimmt einer Abberufung und Auflösung des Vertrages mit Herrn Dr. Ickrath nur zu, wenn auch der zweite Geschäftsführer, Prof. Nekovar abberufen und ggf. gekündigt wird.

Im Rahmen der Diskussion wurde hierzu folgende Verfahrensweise festgelegt:

  1. Es ist auf Kosten der Gesellschaft ein Rechtsanwalt mit Erfahrungen im Arbeitsrecht sowie Abberufung/Kündigungen Geschäftsführer zwecks weiterer rechtlicher Begleitung der jeweiligen Abmahnungen sowie Abberufungen und Kündigungen der Geschäftsführer zu suchen. Dazu wird ein Angebot über den Bühnenverein, Herrn Benclowitz, von der UHGW erbeten. Herr Westphal wird einen RA benennen, der sich auf Abberufungen/ Kündigungen von Geschäftsführern spezialisiert hat.
  2. Nach Auswahl ist der Rechtsanwalt entsprechend zu beauftragen, die weiteren Vorgänge der Abmahnungen gegenüber den Geschäftsführern bei weiterem Bedarf zu bearbeiten. Zudem sind Verhandlungen zur einvernehmlichen Auflösung des Dienstvertrages mit Herrn Dr. Ickrath zu führen. Hierzu wird bemerkt, dass seitens der Staatsanwaltschaft voraussichtlich erst Ende Mai 2010 die Prüfung der Unterlagen beendet werden soll, und erst dann eine Entscheidung zu einer Anklageerhebung getroffen werden wird.
  3. Ebenso ist die Abberufung und ggf. Anpassung des Dienstvertrages (evtl. Bezahlung als Operndirektor) mit Prof. Nekovar vorzubereiten und zu verhandeln.
  4. Als Interimsgeschäftsführer wurde Hans-Walter Westphal vorgeschlagen. Seitens den Greifswalder Gesellschaftsvertretern wurde zugesichert, deren Oberbürgermeister zu informieren und anschließend eine Aussage dahingehend zu treffen, ob Herr Westphal vom Gesellschafter Greifswald mitgetragen würde. Frau Kassner stimmt dem Vorschlag zu.  

Seitens Herrn Dr. Steffens wurde darauf aufmerksam gemacht, dass gemäß Gesellschaftervertrag § 10 Absatz 2 in Verbindung mit § 16 Absatz 1 zur Abberufung der Geschäftsführungen Empfehlungen bzw. gerichtliche und außergerichtliche Vertretungen durch den Aufsichtsrat festgeschrieben sind. Er empfiehlt diesbezüglich einen satzungsdurchbrechenden Gesellschafterbeschluss zu fassen.

Eine Abstimmung zum weiteren Vorgehen im Rahmen der angestrebten Fusion wurde aus Zeitgründen nicht mehr beraten.

Stralsund, den 17.05.2010

Dr. Alexander Badrow

Vorsitzender der Gesellschaftsversammlung“

* Nachsatz: Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden Im Herbst 2010 ohne „Anklageerhebung eingestellt.