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Rosa Luxemburg und der Krieg

28 Mär
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«… wenn die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, daß Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind, dann sind die Kriege unmöglich geworden …»
Die Verteidigungsrede am 20. Februar 1914 vor der Frankfurter Strafkammer war für Rosa Luxemburg ein großer intellektueller Erfolg. Sie rechtfertigte mit scharfen Hieben gegen den Staatsanwalt und die Offizierskaste ihren Kampf gegen Krieg und Militarismus.
Rosa Luxemburg wurde zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt – wegen «Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und gegen Anordnungen der Obrigkeit» (aus R.-L.-Stiftung vom 1. September 2016)

Ich füge hinzu: Und der militärisch-industrielle Komplex kann heute nur solange obszön-gigantische Profite erzielen, wie seine Lobbyisten in den Regierungen sitzen und medienübergreifend Feindbilder heraufbeschwören dürfen – alte und aufgefrischte wie „die gelbe Gefahr“, oder „der brutalen Zar im Kreml“, und neu brandgemauert, „der Verräter im Weißen Haus“!

UNWORT DES JAHRES 2025

27 Mär

Ich habe einen Vorschlag: „Demokratische Mitte“

Dieser Begriff ist ein Widerspruch in sich selbst, ist das Gegenteil dessen, was er meinen soll. Jedenfalls in seinem von der „Demokratischen Mitte“ gemeinten Sinn und Gebrauch. „Demokratische Mitte“ ist der Begriff eines politischen Raumes und versteht sich als Verortung politischer Parteien, die sich und ihr Handeln einzig und allein als demokratisch verstehen. Dieser Sinn ist ausschließend, ja aussondernd. Kein Problem wäre es, gäbe es auch „Demokratische Ränder“. Doch dann verlöre jener Begriff jede Bedeutung. Der Platz des Randes bleibt den Schmuddelkindern vorbehalten. Das ist das Undemokratische an dem Begriff der „Demokratischen Mitte“. Und da zudem nur Demokraten die Guten sind, darf die Macht auch nur ihnen allein gehören.

Und so fängt es an!

Noch alle Tassen im Schrank?

14 Mär

12. März – Mittwoch

Friedrich Merz, in den letzten Zügen seiner Wahlkampftournee, zu Gast in Bayern, in München, kommt so richtig in Schwung, hats dem Söder abgelauscht, wie mer an Bayern in Stimmung bringt. Und er kommt gut an, der Saal tobt, er trifft die Seppelhosenmentalität – „mir san mir!“ – und mir san viele. Aber net alle. A bissl Diskriminierung muss scho sei! Das weiß er. Im Hochgefühl seines kommenden Wahlsiegs: „Jetzt machen wir wieder Politik für die Mehrheit der Bevölkerung, . . . für die Mehrheit, die grade denken kann, die auch noch alle Tassen im Schrank haben, und nicht für irgendwelche grünen und linken Spinner auf dieser Welt . . .“! Merz, schon neunundfünfzig, wird nie ein „Alter Fritz“ werden. Er hat sich verrannt, in Bierlaune. Aber seine humorlosen Konkurrenten, besonders die Grünen, die ja voraussichtlich raus sind aus den Regierungsgeschäften, mimen die Empörten. Merz hatte noch, während er formulierte, nachgeschoben „. . . die sollen da draußen rumlaufen!“ Aber so fein differenzieren die Medien nicht. Und hatten die linken und grünen Spinner, die da draußen rumgelaufen waren und randaliert hatten, sich nicht mit ihren Abgeordneten solidarisiert, die selbst außer Rand und Band in der Debatte krakeelt hatten, als Merz in der entscheidenden Sitzung nicht nach links und nicht nach rechts schaute, um ein Gesetz auf die Gefahr hin durchzukriegen, es nur mit den Stimmen der AfD zu schaffen. Wenn die Brandmauer gefallen wäre – nicht auszudenken. Ein geistiger Exodus hätte begonnen und ganze Industrien wären abgewandert. Es kam nicht dazu! Und doch, wieder hatte Merz sich vergaloppiert. Ein fataler Gesichtsverlust für den Kanzlerkandidaten. Doch eine weitere Zeitenwende kam: TRUMP! die half ihm aus der Patsche.

Von nun an kennt Merz, wie einst seine Majestät, keine Parteien mehr, auch die eigene nicht. Wieder muss staatspolitische Verantwortung dafür herhalten, dass überhaupt regiert werden kann. Die „linken Spinner“ zieren sich diesmal nicht, müssen vom Bundespräsidenten nicht gemahnt werden. Sie haben gelernt beim Eintritt in die letzte GroKo. Eile ist geboten. Trump, der Verräter, will mit Putin, über die Köpfe von Ukraine und EU hinweg Frieden schließen!

13. März kein Freitag

Im Bundestag. Die Kleine demnächst wahrscheinlich regierende Koalition, bringt ihr grandioses Verschuldungsprojekt ins Plenum, das meiste davon sind Kriegskredite. Diesmal stimmen die Sozialdemokraten nicht, wie 1914, nur zu – sie hecken sie selber mit aus. Freilich, auch für die marode Infrastruktur ist was dabei – wer denkt da nicht an Brücken, Schienen und Autobahn. Richtig, alles kriegswichtig! – Auch Krankenhäuser. Ja, die werden dann auch gebraucht, bestenfalls! Die Grünen sind noch zögerlich, wollen jetzt schnell noch ein bisschen auf Opposition machen. Und dann wabert, wenn auch nur eine Halblüge, doch allzu passend als unschlagbares Argument durchs Haus: Putin lehnt den Waffenstillstand ab, dem Selenskyj zugestimmt hat. Nun, es war nicht Putin. Die Medien haben das von irgendeinem Putin-Berater als Empfehlung für Putin aufgeschnappt.

Am Abend dann herrscht im deutschen Mediengestrüpp heftiges Spekulieren, mit negativem Unterton. Putin stimmt Waffenruhe zu – mit Bedingungen! Kann „dieser Verbrecher“, „dieser Volksmörder“, „Vergewaltiger“, „Entführer“ und überhaupt – könnte der nicht einfach mal so zustimmen, oder noch besser, nur einfach mal seine Truppen zurück- und abziehen?

Die Entscheidung über das BlackRocker-Geschenk für BlackRock & Co., für das eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, soll am kommenden Dienstag fallen. Bis dahin kann heutzutage noch viel geschehen. Wir haben ein Bundesverfassungsgericht. Es sollte entscheiden können, ob das Anliegen der künftigen Regierung so zeitnah befriedigt werden darf, ohne Rücksicht auf den neu gewählten Bundestag, der schon in der nächsten Woche sich konstituieren könnte. Darauf hofft die Opposition. Und darauf hoffen viele Bürger, die ahnen, was dieser geplante riesige Schuldenberg, böse Menschen sage, dieser finanzielle Staatsstreich, für sie bedeutet.

Haben die künftigen Regierungskoalitionäre wirklich mehr Angst vor der realen Friedensgefahr aus dem Weißen Haus, als vor einer beschworenen Kriegsgefahr aus dem Kreml! Es könnte sein, dass sich bald vor aller Welt zeigt,

WER DA NICHT MEHR ALLE TASSEN IM SCHRANK HAT!

Osterbotschaft

1 Apr

Was wäre aktuell dringlicher?

J. F. Kennedy Rede am 10. Juni 1963, ermordet 165 Tage darauf, am 22. November. Chruschtschow entmachtet ein Jahr später am 14. Oktober 1964!

AMERICAN UNIVERSITY COMMENCEMENT ADDRESS – GERMAN

Präsident John F. Kennedy
Washington, D.C.
10.Juni1963

Präsident Anderson, Mitglieder der Fakultät und des Kuratoriums, verehrte Gäste, Senator Bob Byrd, mein Kollege von früher, der sich seinen Abschluss durch den jahrelangen Besuch von Abendkursen einer juristischen Fakultät verdient hat, wohingegen ich meinen in den nächsten 30Minuten erhalten werde, verehrte Gäste, meine Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre, an dieser Feier der American University teilzunehmen, die von der Methodistenkirche gefördert und von Bischof John Fletcher Hurst gegründet wurde. 1914 eröffnete hier Präsident Woodrow Wilson zum ersten Mal die Tore dieser Bildungseinrichtung. Dies ist eine junge und wachsende Universität, doch schon jetzt wird sie der aufgeklärten Hoffnung von Bischof Hurst gerecht: Er wollte, dass in einer Stadt, in der Geschichte geschrieben wird und in der man sich der Durchführung öffentlicher Aufgaben widmet, Studien in Geschichte und öffentlichen Angelegenheiten angeboten werden. Die Methodisten dieser Region und die Nation verdienen unseren Dank dafür, dass sie diese weiterführende Bildungseinrichtung gefördert haben, damit sie unabhängig von Hauptfarbe oder Glaube von all denjenigen genutzt werden kann, die sich fortbilden möchten. Ich gratuliere den Studenten, denen heute ein akademischer Grad verliehen wird.

Professor Woodrow Wilson sagte einmal, dass jeder Universitätsabsolvent sowohl ein Vertreter seiner Nation als auch ein Vertreter seiner Zeit sein sollte. Ich bin zuversichtlich, dass die Männer und Frauen, welche die Ehre haben, einen Abschluss dieser Bildungseinrichtung zu erlangen, auch in Zukunft ihr Leben und ihre Talente dazu nutzen werden, um in hohem Maße der Öffentlichkeit zu dienen und sie zu unterstützen.

„Nur wenige Dinge auf Erden übertreffen die Schönheit einer Universität“, schrieb John Masefield in seiner Lobesrede an englische Universitäten. Bis heute haben seine Worte nichts an Wahrheit eingebüßt. Dabei bezog er sich jedoch nicht auf Spitzen, Türme, die Grünanlagen des Universitätsgeländes oder die efeuumrankten Mauern. Er bewunderte die grandiose Schönheit von Universitäten, weil sie „Orte sind, an denen sich diejenigen, die Unwissenheit hassen, dem Lernen widmen können, und an denen diejenigen, die Wahrheit erkennen, dafür sorgen können, dass anderen die Augen geöffnet werden“.

Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, jetzt und hier über ein Thema zu sprechen, bei dem man zu oft auf Unwissenheit stößt und bei dem die Wahrheit zu selten erkannt wird, obwohl es sich bei ihm um das wichtigste Thema auf der ganzen Welt handelt: den Weltfrieden.

Von welcher Art Frieden spreche ich? Welche Art Frieden streben wir an? Es geht hier nicht um eine PaxAmericana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird. Auch geht es nicht um den Frieden des Grabes oder um die Sicherheit der Sklaven. Ich spreche von echtem Frieden, von der Art Frieden, die das Leben auf der Erde lebenswert macht, von der Art Frieden, durch die Menschen und Nationen wachsen, hoffen und für ihre Kinder die Grundlage einer besseren Zukunft legen können. Ich spreche nicht nur von Frieden für Amerikaner, sondern von Frieden für alle Männer und Frauen. Auch geht es nicht nur darum, dass in unserer Zeit Frieden herrscht, sondern für alle Zeiten.

Ich spreche von Frieden, weil sich das Gesicht des Krieges verändert hat. Totaler Krieg ist in einem Zeitalter sinnlos, in dem Großmächte viele und relativ unbezwingbare Atomwaffen unterhalten können und sich weigern, ohne Einsatz dieser Waffen zu kapitulieren. Er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem die Explosion einer einzigen Atomwaffe nahezu zehnmal so stark ausfällt wie die Waffen aller alliierten Luftstreitkräfte des Zweiten Weltkriegs zusammen. Er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem die tödlichen Gifte, die bei einem atomaren Austausch freigesetzt werden, mit Wind, Wasser, Erde und Saatgut in die entlegensten Winkel dieser Erde gebracht und Generationen, die noch nicht einmal geboren wurden, davon in Mitleidenschaft gezogen werden würden.

Derzeit müssen wir zur Friedenssicherung jedes Jahr Milliarden von Dollar für Waffen ausgeben, die nur gekauft werden, damit wir sie niemals einsetzen. Der Erwerb eines solch ungenutzten Arsenals, das ausschließlich zu zerstörerischen, nicht jedoch zu konstruktiven Zwecken eingesetzt werden könnte, ist sicherlich nicht die einzige und schon gar nicht die effizienteste Methode der Friedenssicherung.

Ich spreche daher von Frieden als das notwendige rationale Ziel vernünftiger Menschen. Ich stelle fest, dass das Streben nach Frieden weniger dramatisch ist als das Streben nach Krieg, und die Worte desjenigen, der Frieden fordert, verhallen häufig ungehört. Dennoch ist dies unsere dringlichste Aufgabe.

So mancher sagt, dass es sinnlos sei, von Weltfrieden, weltweit gültigen Gesetzen oder globaler Abrüstung zu sprechen, und dass dies so lange der Fall sein wird, bis die Machthaber der Sowjetunion eine aufgeklärtere Haltung einnehmen. Ich hoffe, sie werden das tun, und denke, dass wir sie dabei unterstützen können. Ich denke aber auch, dass wir unsere eigene Haltung als Einzelne und als Nation erneut hinterfragen sollten, da sie eine genauso wichtige Rolle spielt wie die der Sowjetunion. Jeder Absolvent dieser Hochschule und jeder gewissenhafte Bürger, der Krieg ablehnt und Frieden herbeisehnt, sollte damit beginnen, nach innen zu blicken, indem er überlegt, welche Einstellung er in Bezug auf die Möglichkeit des Friedens, die Sowjetunion, den Verlauf des Kalten Krieges und Freiheit und Frieden hier im eigenen Land vertritt.

Hierzu mein erster Punkt: Lassen Sie uns überlegen, wie wir zum Frieden an sich stehen. Zu viele Menschen unter uns glauben, dass es nicht möglich sei, in Frieden zu leben. Zu viele denken, dass dies unrealistisch sei. Dies ist jedoch eine gefährliche, defätistische Ansicht. Sie führt zu der Schlussfolgerung, dass Krieg unvermeidbar ist und dass die Menschheit dem Schicksal verfallen ist und von Kräften geleitet wird, die sie nicht kontrollieren kann.

Wir müssen diese Ansicht nicht akzeptieren. Unsere Probleme wurden von Menschen verursacht, weshalb sie auch von Menschen gelöst werden können. Ein Mensch kann all das erreichen, was er sich vornimmt. Kein Problem, das mit dem menschlichen Schicksal in Verbindung gebracht wird, übersteigt menschliche Fähigkeiten. Menschen haben schon oft unter Einsatz ihrer Vernunft und ihres Geistes scheinbar unüberwindbare Probleme gelöst, und wir glauben, dass sie dazu auch in Zukunft in der Lage sein werden.

Ich beziehe mich hier nicht auf das absolute, grenzenlose Konzept von Frieden und Wohlwollen, von dem einige phantasieren und Fanatiker träumen. Ich möchte gar nicht leugnen, wie wichtig Hoffnungen und Träume sind, aber wir rufen lediglich Enttäuschung und Unglaubwürdigkeit hervor, wenn wir dieses Konzept zu unserem einzigen, unmittelbaren Ziel machen.

Wir sollten uns stattdessen auf eine praktischere Art von Frieden konzentrieren, die sich eher erzielen lässt und die nicht auf einer plötzlichen Umwälzung der menschlichen Natur basiert, sondern auf einer allmählichen Evolution der menschlichen Institutionen, auf einer Reihe konkreter Maßnahmen und wirksamer Vereinbarungen, die im Interesse aller Beteiligten stehen. Für diese Art von Frieden gibt es keine einfache Lösung, die allein zu Erfolg führt, keine großartige Zauberformel, die von einer oder zwei Großmächten angewandt werden könnte. Echter Frieden muss das Produkt zahlreicher Nationen sein, die Summe vieler Maßnahmen. Er muss dynamischer und nicht statischer Natur sein, und er muss an die veränderten Herausforderungen jeder neuen Generation angepasst werden. Denn bei Frieden handelt es sich um einen Prozess, um eine Methode, Probleme zu lösen.

Bei solch einem Frieden wird es dennoch zu Streitigkeiten und Interessenkonflikten kommen, wie dies für Familien und Nationen eben einmal typisch ist. Für Weltfrieden, wie auch für den Frieden innerhalb einer Gemeinschaft, ist es nicht erforderlich, dass jeder Mensch seinen Nachbarn liebt. Es ist lediglich erforderlich, dass sie in der Lage sind, durch gegenseitige Toleranz zusammenzuleben und Streitpunkte auf gerechte und friedliche Weise beizulegen. Die Geschichte lehrt uns ja, dass Feindschaften zwischen Nationen nicht ewig andauern, und dies gilt auch für Menschen. Wie tief unsere Vorlieben und Abneigungen auch verwurzelt sein mögen, die Beziehungen zwischen Nationen und Nachbarn verändern sich im Laufe der Zeit und unter Berücksichtigung neuer Ereignisse oft auf überraschende Weise.

Lassen Sie uns daher beharrlich sein. Es muss nicht sein, dass Frieden nicht zu verwirklichen ist, und Krieg muss nicht unvermeidbar sein. Wenn wir unser Ziel genauer definieren, wenn wir dafür sorgen, dass es realisierbarer und greifbarer erscheint, dann können wir einen Beitrag dazu leisten, dass das Ziel von allen Menschen erkannt wird, dass es in ihnen Hoffnung hervorruft und dass wir uns unaufhaltsam immer weiter auf dieses Ziel zubewegen.

Nun zu meinem zweiten Punkt: Lassen Sie uns noch einmal überlegen, wie wir zur Sowjetunion stehen. Denken wir, dass die politische Führung dieses Landes das glaubt, was ihre Propagandisten schreiben, dann ist dies entmutigend. Es ist entmutigend, wenn wir einen kürzlich veröffentlichten amtlichen Text der Sowjetunion über Militärstrategie lesen und dabei auf jeder einzelnen Seite auf vollkommen haltlose und unglaubliche Behauptungen stoßen. Unter anderem wird darin behauptet, dass sich „amerikanische imperialistische Kreise darauf vorbereiten, verschiedenartige Kriege auszulösen … dass eine äußerst reelle Bedrohung vorhanden ist, dass amerikanische Imperialisten gegen die Sowjetunion einen Präventivkrieg auslösen … [und dass] die politischen Ziele der amerikanischen Imperialisten darin bestehen, die europäischen und anderen kapitalistischen Länder wirtschaftlich und politisch zu versklaven … [und] sie die Weltherrschaft erlangen wollen, … indem sie aggressive Kriege führen.“

Es stimmt schon, was vor langer Zeit geschrieben wurde: „Der Frevler flieht, auch wenn ihn keiner verfolgt.“ Dennoch stimmt es traurig, wenn man diese sowjetischen Aussagen liest und sich bewusst wird, wie tief die Kluft ist, die uns trennt. Diese Aussagen dienen uns aber auch als Warnung, als Warnung an das amerikanische Volk, nicht in dieselbe Falle zu tappen wie die Sowjets, nicht nur eine verzerrte, verzweifelte Ansicht der gegnerischen Seite zu sehen, Konflikt nicht als unabwendbar zu betrachten, Entgegenkommen nicht als unmöglich und Kommunikation als nicht viel mehr als ein Austausch von Drohungen.

Kein Regierungs- oder Gesellschaftssystem ist so übel gesinnt, dass die ihm angehörigen Menschen als tugendlose Wesen zu betrachten sind. Wir Amerikaner finden Kommunismus zutiefst abstoßend, weil in ihm persönliche Freiheit und Würde negiert werden. Trotzdem können wir den Russen aufgrund ihrer zahlreichen Errungenschaften zujubeln, in Wissenschaft und Raumfahrt, beim wirtschaftlichen und industriellen Wachstum, in der Kultur und bei mutigen Handlungen.

Unter all den Charakteristika, die die Menschen unserer beiden Länder gemein haben, ist keines so stark wie unsere einvernehmliche Verachtung von Krieg. Wir haben noch nie gegeneinander Krieg geführt, was unter den wichtigsten Weltmächten fast einzigartig ist. Und in der Kriegsgeschichte hat noch nie eine Nation dermaßen viel Leid ertragen müssen wie die Sowjetunion im Laufe des Zweiten Weltkriegs. Damals kamen mindestens 20Millionen Menschen ums Leben. Unzählige Millionen Wohnhäuser und Bauernhöfe wurden niedergebrannt oder geplündert. Ein Drittel des Staatsgebiets, und hierzu zählten fast zweiDrittel seiner industriellen Basis, wurden in eine Öde verwandelt. Dieser Verlust ist der Zerstörung gleichzusetzen, die man in diesem Land östlich von Chicago erlebt hat.

Sollte heutzutage noch einmal ein totaler Krieg ausbrechen, egal wie, dann wären unsere beiden Länder die Hauptangriffsziele. Es ist ironisch und zugleich wahr, dass die zwei mächtigsten Staaten auch die sind, die am stärksten von Verwüstung bedroht sind. Alles, was wir aufgebaut haben, alles, wofür wir gearbeitet haben, würde in den ersten 24Stunden zerstört werden. Und selbst im Kalten Krieg, durch den so viele Nationen– und darunter auch die engsten Alliierten dieser Nation– belastet und gefährdet werden, tragen unsere beiden Länder die schwerste Last. Denn beide Länder geben gewaltige Summen für Waffen aus, obwohl diese Gelder besser für die Bekämpfung von Unwissenheit, Armut und Krankheiten verwendet werden könnten. Beide Länder sind in einem gefährlichen Teufelskreis gefangen, in dem das Misstrauen, das auf einer Seite herrscht, auch auf der anderen Seite Misstrauen hervorruft. So führen neue Waffen dazu, dass auch auf der anderen Seite das Waffenarsenal vergrößert wird.

Kurzum, sowohl die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten als auch die Sowjetunion und ihre Alliierten haben ein tiefes, auf Gegenseitigkeit beruhendes Interesse daran, dass ein gerechter und ehrlicher Frieden herrscht und dem Wettrüsten Einhalt geboten wird. Zu diesem Zweck getroffene Vereinbarungen stehen sowohl im Interesse der Sowjetunion als auch in unserem Interesse. Und selbst die feindlichsten Nationen werden die Verpflichtungen, die sie in einem Abkommen eingegangen sind und die in ihrem eigenen Interesse stehen, verlässlich akzeptieren und einhalten— und zwar nur diese.

Lassen Sie uns daher unsere Differenzen nicht ignorieren, aber wir müssen uns auch auf unsere gemeinsamen Interessen konzentrieren und darauf, wie wir diese Differenzen überwinden können. Und sollten wir nicht in der Lage sein, unseren Differenzen jetzt ein Ende zu setzen, so können wir zumindest einen Beitrag dafür leisten, dass auf dieser Welt eine sichere Grundlage für Vielfalt gelegt wird. Letzten Endes besteht unsere grundlegendste Gemeinsamkeit darin, dass wir alle auf diesem kleinen Planeten leben. Wir alle atmen dieselbe Luft. Uns allen liegt die Zukunft unserer Kinder am Herzen. Und wir alle sind sterblich.

Ich fahre nun mit meinem dritten Punkt fort: Lassen Sie uns noch einmal überlegen, welche Haltung wir in Bezug auf den Kalten Krieg vertreten, und dabei daran denken, dass es hier nicht um eine Debatte geht, bei der jeder versucht, möglichst viele Punkte zu sammeln. Wir möchten hier weder Schuldzuweisungen machen noch jemanden verurteilen. Wir müssen die Welt so nehmen, wie sie ist, und können nicht so tun, als wäre die Geschichte der vergangenen 18Jahre anders verlaufen.

Wir müssen das Streben nach Frieden daher beharrlich in der Hoffnung fortsetzen, dass durch konstruktive Veränderungen im kommunistischen Block Lösungen möglich sein werden, die wir momentan noch für unrealistisch halten. Wir müssen unseren Angelegenheiten so nachgehen, dass es im Interesse der Kommunisten sein wird, einem echten Frieden zuzustimmen. Wir werden unsere eigenen Hauptinteressen verfolgen, vor allem müssen die Atommächte jedoch Konfrontationen abwenden, bei denen ein Gegner nur die Wahl zwischen demütigendem Rückzug und Atomkrieg hat. Würde man im atomaren Zeitalter einen solchen Kurs einschlagen, wäre dies lediglich ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder dafür, dass wir der ganzen Welt den kollektiven Tod wünschen.

Zu diesem Zweck sollen die amerikanischen Waffen nicht provozieren, sondern sie werden sorgsam kontrolliert, sie dienen der Abschreckung und sie können selektiv eingesetzt werden. Unsere Streitkräfte setzen sich für Frieden ein und handeln diszipliniert, indem sie Selbstbeherrschung zeigen. Unsere Diplomaten wurden angewiesen, unnötige Ärgernisse und rein rhetorische Animosität zu vermeiden.

Wir können uns um Entspannung bemühen, ohne in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Und wir müssen unsererseits nicht auf Drohungen zurückgreifen, um unsere Entschlossenheit unter Beweis zu stellen. Wir müssen nicht die Ausstrahlung ausländischer Sendungen stören, weil wir fürchten, dass unser Glaube erschüttert wird. Wir sind nicht willens, Menschen unser System aufzuzwingen, die daran kein Interesse haben, aber wir sind willens und auch dazu in der Lage, mit jedem beliebigen Volk dieser Erde in friedlichen Wettbewerb zu treten.

Zwischenzeitlich bemühen wir uns, die Institution der Vereinten Nationen zu stärken, damit sie ihre Finanzprobleme lösen kann, zu einem wirksameren Instrument für Frieden wird und sich in ein echtes Weltsicherheitssystem weiterentwickeln lässt, durch das sich Dispute rechtlich lösen lassen, die Sicherheit großer und auch kleiner Staaten gewährleistet werden kann und Bedingungen geschaffen werden, unter denen eine Abrüstung letztendlich möglich ist.

Zugleich versuchen wir, den Frieden in der nichtkommunistischen Welt zu sichern. Dort teilt sich die Meinung vieler Nationen, die alle zu unseren Freunden gehören, wenn es um Themen geht, durch die die westliche Einheit geschwächt, die kommunistische Intervention herausgefordert oder der Ausbruch eines Krieges droht. Wir haben im Rahmen unserer Anstrengungen in West-Neuguinea, im Kongo, im Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent trotz beidseitiger Kritik beständig und geduldig gehandelt. Auch haben wir versucht, anderen ein Beispiel zu geben, indem wir uns bemühten, kleine, aber entscheidende Differenzen mit unseren eigenen direkten Nachbarn, Mexiko und Kanada, aus dem Weg zu räumen.

Und wenn wir gerade von anderen Nationen reden, möchte ich eines ganz klar sagen: Wir sind mit vielen Nationen Bündnisse eingegangen. Diese Bündnisse sind darauf zurückzuführen, dass unsere Bedenken und die Bedenken unserer Partner im Wesentlichen übereinstimmen. Unsere Verpflichtung, beispielsweise Westeuropa und West-Berlin zu verteidigen, ist aufgrund des Wesens unserer Basisinteressen ungeschmälert. Die Vereinigten Staaten werden mit der Sowjetunion kein Abkommen treffen, durch das andere Nationen und andere Völker Nachteile erleiden, und zwar nicht nur, weil diese Staaten zu unseren Partnern zählen, sondern auch, weil unsere gemeinsamen Interessen immer ähnlicher werden.

Unsere Interessen gleichen sich jedoch nicht nur dahingehend an, dass die Grenzen der Freiheit verteidigt werden, sondern auch bei der Suche nach friedensstiftenden Wegen. Unsere Hoffnung– und der Zweck alliierter Politik– ist es, die Sowjetunion davon zu überzeugen, dass auch sie andere Nationen selbst entscheiden lassen sollte, welchen Weg sie in Zukunft gehen möchten. Dies gilt, solange die Wahl einer Nation die Wahl einer anderen Nation nicht beeinträchtigt. Der kommunistische Drang, anderen das eigene politische und wirtschaftliche System aufzuzwingen, ist die Hauptursache dafür, dass in der Welt zurzeit Spannung herrscht. Zweifelsohne ließe sich Frieden leichter sichern, wenn es alle Nationen unterlassen würden, sich in die Entscheidungen anderer einzumischen.

Hierzu wird es erforderlich sein, dass neue Anstrengungen im Hinblick auf die Verabschiedung weltweit gültiger Gesetze unternommen werden, die einen neuen Kontext für globale Diskussionen darstellen würden. Hierzu müsste jedoch ein besseres Verständnis zwischen den Sowjets und uns aufgebaut werden. Und für ein besseres Verständnis ist ein höheres Maß an Kontakt und Kommunikation notwendig. Ein Schritt in diese Richtung ist der Vorschlag, eine direkte Telefonleitung zwischen Moskau und Washington einzurichten, damit auf beiden Seiten die gefährlichen Verzögerungen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen der Handlungen des Gegenübers vermieden werden können, zu denen es in Krisenzeiten kommen könnte.

Darüber hinaus haben wir uns in Genf auch über andere erste Maßnahmen zur Rüstungskontrolle unterhalten, durch die dem Wettrüsten der Wind aus den Segeln genommen und das Risiko eines versehentlich ausgelösten Krieges vermindert werden soll. In Genf geht es uns jedoch vorwiegend um ein langfristiges Ziel: die allgemeine und vollständige Abrüstung. Sie soll phasenweise stattfinden, damit zeitgleich politische Entwicklungen zum Aufbau der neuen Institutionen des Friedens möglich sind, die an die Stelle von Waffen treten würden. Diese Regierung setzt sich bereits seit den 1920er Jahren für Abrüstung ein. Schon die letzten dreiRegierungen forderten sie dringend. Und unabhängig davon, wie düster die Perspektiven derzeit sein mögen, wollen wir diese Anstrengung weiterführen, damit man in allen Ländern– auch bei uns– besser verstehen kann, welche Probleme und Möglichkeiten mit Abrüstung einhergehen.

Einer der Hauptbereiche dieser Verhandlungen, in dem zwar das Ende in Sicht, ein frischer Start jedoch dringend geboten ist, besteht in einem Abkommen über das Verbot von Atomtests. Durch den Abschluss eines solchen Abkommens, das so nah und doch so fern ist, ließe sich dem außer Kontrolle geratenen Wettrüsten in einem seiner gefährlichsten Bereiche Einhalt gebieten. Dadurch wären die Atommächte imstande, wirksamer etwas gegen eine der größten Gefahren zu unternehmen, denen die Menschheit im Jahr 1963 ausgesetzt ist: der weiteren Ausbreitung von Atomwaffen. Unsere Sicherheit ließe sich steigern, und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges fiele geringer aus. Dieses Ziel ist gewiss wichtig genug, um sich dauerhaft dafür einzusetzen. Dabei sollten wir weder der Versuchung nachgeben, die Anstrengung ganz einzustellen, noch der Versuchung, wichtige und verantwortungsbewusste Schutzmaßnahmen dafür aufzugeben.

Ich möchte diese Gelegenheit daher nutzen, um zwei wichtige Entscheidungen bekanntzugeben, die in dieser Hinsicht getroffen wurden:

Erstens: Vorsitzender Chruschtschow, Premierminister Macmillan und ich haben beschlossen, dass in Moskau bald auf hochrangiger Ebene Gespräche eingeleitet werden, durch die es zu einer frühzeitigen Übereinkunft im Hinblick auf ein Abkommen über das umfassende Verbot von Atomtests kommen soll. Unsere Hoffnungen müssen aufgrund der Vorsicht, die uns die Geschichte gelehrt hat, gedämpft werden, aber unsere Hoffnungen werden durch die Hoffnungen der ganzen Menschheit begleitet.

Zweitens: Um unseren guten Glauben und unsere ernstgemeinten Überzeugungen in dieser Hinsicht unter Beweis zu stellen, erkläre ich jetzt, dass die Vereinigten Staaten nicht beabsichtigen, Atomtests in der Atmosphäre durchzuführen, solange dies auch von anderen Staaten unterlassen wird. Wir werden nicht die Ersten sein, die diese Tests wieder aufnehmen. Solch eine Erklärung ist kein Ersatz für ein formales Abkommen mit Bindungswirkung, aber ich hoffe, dass ein Abkommen dieser Art dadurch leichter abgeschlossen werden kann. Genauso ist ein solches Abkommen kein Ersatz für Abrüstung, aber ich hoffe, dass wir diese Abrüstung dadurch leichter erzielen können.

Meine amerikanischen Mitbürger, lassen Sie uns abschließend überlegen, welche Haltung wir in Bezug auf Frieden und Freiheit im eigenen Lande vertreten. Die Qualität und das Wesen unserer eigenen Gesellschaft müssen unsere Bemühungen im Ausland rechtfertigen und unterstützen. Dies müssen wir unter Beweis stellen, indem wir in unserem eigenem Leben Engagement zeigen. Viele von Ihnen, denen heute ein Universitätsabschluss verliehen wird, werden hierzu eine einzigartige Gelegenheit haben, indem Sie ehrenamtlich für das Friedenskorps im Ausland oder im geplanten nationalen Dienstkorps hier im eigenen Lande dienen.

Wo immer wir uns auch aufhalten, wir alle müssen im Alltag am uralten Glauben festhalten, dass Frieden und Freiheit zusammengehören. In zu vielen unserer Städte können wir uns heute dem Frieden nicht gewiss sein, weil die Freiheit eingeschränkt ist.

Es liegt im Verantwortungsbereich der Exekutive, auf allen Regierungsebenen– lokal, bundesstaatlich und national– und unter Zuhilfenahme aller ihr zur Verfügung stehender Mittel dafür zu sorgen, dass alle Bürger frei sind und diese Freiheit bewahrt wird. Die Legislative ist auf allen Ebenen dafür zuständig, dort für angemessene Befugnisse zu sorgen, wo dies derzeit nicht der Fall ist. Und es liegt in der Verantwortung aller Bürger in allen Teilen dieses Landes, die Rechte aller Mitbürger zu achten und sich an das in diesem Land geltende Recht zu halten.

All dies steht in einem Zusammenhang zum Weltfrieden. „Wenn jemands Wege dem Herrn wohl gefallen“, so steht es in der Heiligen Schrift, „macht er auch seine Feinde mit ihm zufrieden“. Und ist Frieden letztendlich nicht einfach eine Frage der Menschenrechte? Das Recht, unser Leben ohne Furcht vor Zerstörung zu leben, das Recht, saubere Luft zu atmen, und das Recht künftiger Generationen, ein gesundes Dasein zu führen?

Lassen Sie uns beim Wahren unserer nationalen Interessen auch die Interessen der Menschheit wahren. Und das Beseitigen von Krieg und Waffen dient offensichtlich beiden Interessen. Allerdings kann kein Abkommen, so sehr auch alle davon profitieren mögen und so genau es auch formuliert sein mag, im Hinblick auf die Risiken der Täuschung und Umgehung absolute Sicherheit bieten. Ist es jedoch bei der Umsetzung wirksam genug und steht es in hinreichendem Maße im Interesse der Unterzeichnenden, so kann es weit mehr Sicherheit bieten und weit weniger Risiken bergen als ein unvermindertes, unkontrolliertes und unvorhersehbares Wettrüsten.

Die Vereinigten Staaten werden, und das weiß man in der Welt, niemals einen Krieg beginnen. Wir wollen keine Kriege. Auch jetzt gehen wir nicht davon aus, dass es zu einem Krieg kommen wird. Diese Generation der Amerikaner hat bereits genug, mehr als genug, Krieg, Hass und Unterdrückung erlebt. Wir sollten jedoch vorbereitet sein, falls andere diesen Wunsch hegen. Wir sollten wachsam sein, um einen solchen Krieg möglichst zu unterbinden. Wir sollten aber auch unseren Beitrag leisten, wenn es darum geht, eine Welt des Friedens zu errichten, in der die Schwachen sicher und die Starken gerecht sind. Weder stehen wir dieser Aufgabe hilflos gegenüber noch fehlt uns der Glaube an ihren Erfolg. Wir sind zuversichtlich und furchtlos, und wir engagieren uns weiterhin, und zwar nicht für eine Strategie der Vernichtung, sondern für eine Strategie des Friedens.

https://www.jfklibrary.org/de/node/11881

Olaf Scholz‘ Ausflüchte – oder, wie eine Erneuerung der SPD nicht gelingen wird

8 Nov

Eine Kritik

Hier auch im .pdf Format

von Jost Aé

 

Vorbemerkung: Auf der Webseite von Olaf Scholz sind unter dem 27. 10. 2017 Überlegungen zur Zukunft der SPD zu finden unter: 

O. S.: „Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!“

http://www.olafscholz.hamburg/main/pages/index/p/5/3211

Das rebellisch intonierte Motto erweckt hohe Erwartungen! Hier nun der Versuch einer kritischen Würdigung! Die Anmerkungen sind entlang des Textes platziert, so, dass genau verfolgt werden kann, was zur Kritik steht. Zugegeben, durch dieses Verfahren nehmen Originaltext und Kritik gewöhnungsbedürftig viel Raum ein. Um die Tiefe der Scholz’schen Argumentation zu erfassen, war es mir nicht möglich, diesen Nachteil zu vermeiden. Andererseits war es nicht machbar, hier noch andere Themen, wie z. B. das innerparteiliche Demokratiedefizit, zu berühren. Auslassungen am Originaltext, der als Zitat behandelt wird, werden wie üblich gekennzeichnet. Sarkastische Einwürfe möge mir der Leser verzeihen – ich konnte mich ihrer nicht entschlagen!

O. S.: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat es nun viermal hintereinander nicht geschafft, die Bundestagswahl für sich zu entscheiden und ein Mandat zur Bildung einer neuen Bundesregierung zu erhalten. …

Keine Ausflüchte: Schonungslose Betrachtung der Lage

 O. S.: „Es ist also Zeit für eine schonungslose Betrachtung der Lage. Die Sozialdemokratische Partei hat strukturelle Probleme. Und da führt es nicht weiter, wenn man sich mit Debatten über Plakate oder darüber aufhält, ob der Kanzlerkandidat falsch beraten war oder etwas falsch gemacht hat. Die Vorschläge, die beispielsweise die Initiative SPD++ zu neuen Organisationsmodellen der Partei gemacht hat, verdienen sorgfältige Erörterung und sollten nicht ungehört verhallen. Aber die Lage kann nur dann in vollem Umfang richtig erfasst werden, wenn nicht Ausflüchte den Blick für die strukturellen Probleme verstellen.“

Schon die „schonungslose Betrachtung“ beginnt damit, den Eindruck zu vermitteln, es ginge bei den Problemen und der notwendigen Erneuerung der SPD allein um strukturelle Probleme: Die strukturellen Probleme der SPD sind Schuld am Wählerschwund! Hätte man – ja wer eigentlich? – auf die SPD++ gehört, dann sähe, so wird die Vermutung nahegelegt, alles ganz anders aus. 

O. S.: „Ausflucht 1: Noch nach jeder gescheiterten Bundestagswahl wurde die fehlende Mobilisierung der SPD zuneigender Wähler thematisiert. Tatsächlich spielen Verluste, die daher rühren, dass Wahlberechtigte, die bei einer vorherigen Wahl die SPD gewählt haben, das nicht mehr tun, eine Rolle.“ Ja, da schau her, würde der verblüffte Bayer dem pfiffigen Hanseaten entgegnen!

O. S.: „ … Abgesehen davon, dass die Wahlenthaltung von Anhängern überwiegend nicht die Folge von anderweitiger Freizeitplanung am Wahlsonntag ist, sondern von Dissens zur Politik ihrer Partei.“

Richtig! Genau dieser Dissens ist, wenn auch nur so nebenbei erwähnt, der entscheidende Punkt!

O. S.: „Diesmal wurde von der SPD geradezu vorbildlich mobilisiert. Sie hat in kurzer Zeit mehr als 25.000 neue Mitglieder gewonnen.“ Das ist allerdings für einen wirklichen Aufbruch bei einem 80-Millionen-Volk nicht viel. Es geht auch besser – Corbyn schaffte 100 000 in kurzer Zeit!

O. S.: „Fehlende Mobilisierung erklärt dieses Wahlergebnis also nicht.“

In der Tat, es lag nicht an fehlendem Mobilisierungsaktionismus. Dieser war jedoch nicht geeignet,  d i e   W ä h l e r  den Dissens vergessen zu lassen! Es fehlte nicht am guten Willen der Wahlkämpfer, sondern an glaubhafter Substanz ihrer Botschaft.

O. S.: „Ausflucht 2: Die Stärke der SPD in Ländern und Kommunen hat einen klaren Blick auf die tatsächliche Schwäche der SPD im Bundestag vernebelt. Angesichts der seit 2005 neu gewonnenen Verantwortung in den Staats- und Senatskanzleien von Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen war das lange auch nicht verwunderlich.“

Das war ja auch, zynisch gesehen, nicht so schlimm, die Schwäche im Bundestag, hatten wir doch starke Minister und Ministerinnen in der Bundesregierung Diese Diagnose ist abenteuerlich, und wenn sie zuträfe, sollten alle derart vernebelten Köpfe ihren Hut nehmen – und nicht mehr zurück auf „Neu-Anfang“!

O. S.: „Nachdem in NRW und Schleswig-Holstein seit diesem Sommer nun Unionspolitiker regieren, muss die Lage aber endlich (!) genauer betrachtet werden.“ Denn man tau!

O. S.: „Ausflucht 3: Die sozialpolitischen Beschlüsse der rot-grünen Koalition, insbesondere die 2003 angekündigte Agenda 2010 und die Rentenbeschlüsse zu Beginn der anschließenden großen Koalition, haben die SPD Kraft gekostet und sie hat darüber an Zustimmung verloren. Das bezweifelt wohl niemand.“

Nicht also die nicht nur angekündigte sondern auch verwirklichte Agenda- und Rentenpolitik hätte die Wähler in Scharen verbittert und der SPD entfremdet? Und die Wähler hätten einer SPD nur nicht mehr ihre Zustimmung geben mögen, weil sie durch ihre sozialpolitische Kraftanstrengung geschwächt wurde? Darauf muss man rhetorisch erst einmal kommen!

O. S.: „Man muss der SPD sozialpolitisch vertrauen. Und die Würde der Arbeit muss im Zentrum ihrer Politik stehen. Daran darf niemand (wieder) zweifeln. Es ist daher gut, dass die SPD seither in beiden großen Koalitionen zahlreiche Reformen vorangetrieben hat, die Deutschland sozialer und gerechter machen. Kurzarbeit hat in der Krise 2008/2009 Hunderttausende Arbeitsplätze gerettet, Branchenmindestlöhne und ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wurden etabliert, Leiharbeit und der Missbrauch bei Werkverträgen eingeschränkt, erwerbsgeminderte Rentner bessergestellt, langjährigen Beschäftigten der Rentenzugang bereits mit 63 ermöglicht, Kitaplätze ausgebaut, BAföG und Wohngeld erhöht, Alleinerziehende unterstützt, Mieter besser geschützt. Die Aufzählung der von der SPD durchgesetzten Gesetze für ein gerechtes Deutschland ließe sich mühelos verlängern. Das Wahlprogramm der SPD bei dieser Bundestagswahl hat mit zahlreichen Konzepten wie der Wiedereinführung der Parität bei den Beiträgen zur Krankenversicherung oder der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen oder zur Stabilisierung des Rentenniveaus daran angeknüpft. Und der Wahlkampf stand ganz im Zeichen der sozialen Gerechtigkeit. Es ist daher nicht plausibel möglich, das Wahlergebnis damit zu begründen, dass die SPD sich nicht genügend für soziale Gerechtigkeit einsetze.“

Ist es wirklich nicht zu verstehen, dass die Wähler der SPD nicht, wenigstens im wahlpolitisch notwendigem Maß, vertrauen? Die Plausibilität stiege deutlich, wäre man ehrlich und prüfte diese „sozialpolitischen Beschlüsse“ auf ihre soziale Konsistenz, anstatt sie nonchalant auf die Positivseite zu setzen! Bei genauerem Hinsehen ist unschwer zu erkennen, dass diese Beschlüsse allesamt inhaltlich halbherzig gestrickt sind – immer mit der Ausrede, mehr sei nicht drin gewesen.

Unübersehbar gibt es eine heikle Tendenz auch in der SPD, zu glauben, das Wahlergebnis sei auch deshalb so ausgefallen wie es ausfiel, weil man z u v i e l von „sozialer Gerechtigkeit“ geredet hätte! Das verprelle wohlsituierte potentielle SPD-Wähler aus der Mitte! Die Partei muss wissen, auf welche Wähler sie verzichten muss, wenn man ihr „sozialpolitisch vertrauen“ können soll! (Siehe auch unter Punkt „Anerkennung!“)

O. S.: „Ausflucht 4: Nach den beiden vorherigen Bundestagswahlen wurde die fehlende Machtoption der SPD als Hemmnis beschrieben, ausreichend Wählerinnen und Wählern zu gewinnen. Nur diesmal gilt auch das nicht. Zum einen wurde Anfang des Jahres die so gerne erörterte Frage, wie die SPD zu einem Regierungsbildungsauftrag kommt, angesichts steigender Umfrageergebnisse für jedermann beantwortet: Durch das plebiszitäre Mandat eines starken Wahlergebnisses; am besten, indem die SPD als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgeht. Zum anderen ist die SPD mit der Frage, wie sie eine Regierung bilden kann, geschickter umgegangen. Und es wurden auch stets verschiedene Optionen, solange sie rechnerisch möglich waren, in der Öffentlichkeit erörtert. Die Partei hat sich klug fast vollständig aus den Debatten herausgehalten.“

Diese Argumentation ist selbst Ausflucht, verhindert sie doch eine schonungslose Sicht auf die Wahlkampfmisere, die sich so zugleich als Misere der Partei entpuppt. Die Wahrheit ist, die Chance der SPD, stärkste Fraktion zu werden, tendierte von Anfang an gegen Null! Das nicht gesehen zu haben, zeugt von schon sträflicher Realitätsferne. Die einzige Chance, einige der hier skizzierten ehrgeizigen Vorhaben zu verwirklichen, wäre RotRotGrün gewesen, das konnte jeder sich an fünf Fingern seiner linken Hand abzählen! Es hat daher schon etwas Tragisches, dass die Helden dieses Wahlkampfs, diese realistischere Chance nie wirklich im Fokus hatten. Und so merkten auch potenzielle SPD-Wähler schnell, dass RRG weder der Kanzlerkandidat noch die Parteiführung, noch weite Kreise links-phobischer Mitglieder besonders in den alten Bundesländern, wünschten. Dazu kommt, dass der beharrlich geäußerte Wille, Kanzler zu werden, Wähler wenig beeindruckt, wenn dies nicht mit einer realistisch erscheinenden Machtoption und mit personaler Glaubwürdigkeit verbunden ist! Die Verkennung dieser Tatsache, muss der gesamten Führung als Versagen angelastet werden!

O. S.: „Ausflucht 5: Gerne wird argumentiert, dass die SPD nicht zu alter Stärke zurückkehren könne angesichts der wachsenden Konkurrenz durch zusätzliche Parteien. Im linken Milieu seien die Grünen und dann die Partei Die Linke hinzugekommen. Ganz rechts trete jetzt die AfD auf. Tatsächlich sitzen jetzt sechs Fraktionen im neuen Bundestag. Dieser Einwand überzeugt aber nicht. Ganz abgesehen davon, dass im ersten und zweiten Deutschen Bundestag auch viele Parteien saßen. Wenn die Wahlergebnisse so ausgefallen wären, wie das Frühjahr hoffen lassen durfte, säßen auch sechs Fraktionen im Bundestag. Aber ein Sozialdemokrat wäre Kanzler.“

Gewiss, die abgewiesene Argumentation ist falsch, aber der Verkehrung von Ursache und Wirkung wird nicht widersprochen. Fakt ist doch:  w e i l  die SPD, im Verein mit den anderen demokratischen Parteien, Vertrauen verloren hat, sind die Wähler abgewandert. Die Gründe kann man nur bei sich selbst suchen und finden.

Ausflucht 5“ flüchtet selbst vor der Wahrheit und hält pseudo-logisch, also falsch, dagegen: Nicht das Frühjahr ließ hoffen, sondern die Hoffnung der Menschen auf Schulz ließen die Partei träumen: Die Frage muss daher so gestellt werden: Warum wurde die Hoffnung enttäuscht, warum platzte der Traum?!

O. S.: „Die Herausforderungen, vor denen die SPD steht, sind grundsätzlicher:

Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung

 Es ist kein Zufall, dass die sozialdemokratischen Parteien in Europa, und generell in allen klassischen Industriestaaten, fast zur gleichen Zeit nicht mehr an frühere Wahlerfolge anknüpfen können.“

Genau das gälte es zu untersuchen! Es kann doch nicht trösten, dass auch andere schwächeln und abgestraft werden. Die „schonungslose Betrachtung“ der Lage muss differenzieren: in GB schwächelt die Labourparty keineswegs, in Frankreich gibt es eine relativ starke Linke, die dortigen „Sozialdemokraten“ haben allerdings regierend ihr Ansehen ruiniert! Warum? – Und die sozialistischen Parteien im Süden Europas – von den nördlichen Schwester-Parteien schamlos im Stich gelassen, weil sie sich ihrem neoliberalen Kurs verweigernspielen sie etwa keine erwähnenswerte Rolle? s. a. unten!

O.S.: „Die sozialdemokratischen Parteien in diesen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern stehen vor der Herausforderung, dass die – im Vergleich zu den Jahrzehnten davor – geringere Wachstumsdynamik seit den achtziger Jahren, die Globalisierung und die technologischen Veränderungen, namentlich die Digitalisierung, vielen Bürgerinnen und Bürgern (berechtigte) Sorgen bereiten. Überall weisen die Statistiken sinkende Löhne in den unteren Einkommensgruppen und nicht selten auch stagnierende Einkommen in der Mittelschicht aus. Und das sogar, wenn die Volkswirtschaft prosperiert oder wie in Deutschland die Beschäftigungsstatistik Rekordzahlen vermeldet. Die Schere zwischen denen, die am oberen Ende der Einkommensskala stehen und den unteren Einkommensgruppen“ (sprich: zwischen arm und reich!) „geht wieder auseinander, nachdem es bis zum Ende der siebziger Jahre eine lange Zeit umgekehrt (?) war. Langsam aber unübersehbar nimmt die Hoffnung, dass die Zukunft besser wird, bei Teilen der Bevölkerung ab. …“

In der Tat, die sozialdemokratischen Parteien stehen vor großen Herausforderungen! Der real existierende Kapitalismus steckt in einer Dauerkrise: das Wachstum, sein wichtigstes Lebenselixier, sinkt; er muss, um sein einziges Ziel, den maximalen Profit, zu erreichen, die Ausbeutungsrate erhöhen – mit auch d e n Folgen, die oben beschrieben werden. Hier aber einen schlichten, quasi fatalistischen Zusammenhang mit den abnehmenden Wahlerfolgen, sprich Wahlniederlagen, zu unterstellen, verbaut den Blick auf die schmerzliche Wahrheit:  d i e s e  Parteien haben versagt! Jede andere Deutung käme einem Offenbarungseid der Sozialdemokratie gleich! Vor genau diesen Herausforderungen zu kapitulieren, sie nicht im Gegenteil als Chance zu sehen, Partei für das neue Prekariat zu ergreifen, nähme ihr jede Existenzberechtigung! Aber ist es noch schlimmer: Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung haben an der Prekarisierung emsig mitgewirkt und tun dies bis auf den heutigen Tag. Das Dilemma der SPD kann am besten ausgedrückt werden durch die beiden ideologisch besetzten Schlüsselworte: „Wirtschaftskompetenz“, der sich die SPD rühmt, und „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, wofür sie geschmäht wird.

O. S.: „In dieser veränderten Welt müssen die sozialdemokratischen Parteien plausible Antworten auf die Frage geben können, wie eine gute Zukunft möglich ist, die sich nicht auf die natürlichen Profiteure der Globalisierung und Digitalisierung beschränkt. Die sozialdemokratischen Konzepte müssen deshalb weiterentwickelt werden. Sie müssen gewährleisten, dass der Fortschritt, der mit der Globalisierung und Digitalisierung verbunden ist, auch für die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger als Fortschritt spürbar wird.“

Ausflüchte:  „In dieser veränderten Welt…“, „Globalisierung und Digitalisierung“! – Die Sozialdemokratie muss i m m e r theoretisch auf der Höhe ihrer Zeit, also vorausschauend sein! Das ist sie aber schon lange nicht mehr! Visionen sind seit Helmut Schmidt verpönt! Um „sozialdemokratische Konzepte“ jenseits sozialdemokratischer Regierungsstuben weiterzuentwickeln, müsste sich wieder theoretisches Denken einstellen, das der Partei im Zuge ihres Regieren-Müssen-Wahns („Opposition ist Mist“) gründlich abhanden gekommen ist!

 natürliche Profiteure“? Profiteure sind nicht Statisten eines natürlichen oder gottgewollten Zustands, sondern Akteure gesellschaftlicher Machtverhältnisse! Diese zu verändern, ist die Herausforderung, die anzunehmen Kern-Aufgabe der Sozialdemokratie wäre! „Plausible Antworten“ wird sie nicht geben können, wenn sie diese Machtverhältnissen verkennt“

O. S.: „Deutschland war immer erfolgreich, wenn es auf den technischen Fortschritt gesetzt hat. Wirtschaftlicher Erfolg wird auch in Zukunft nur so möglich sein.“

Dieser Satz ist in der gleichen Weise falsch wie z. B. „Deutschland hat über seine Verhältnisse gelebt“ oder „Deutschland geht es gut“.

O. S.: „Ein starker und zuverlässiger Sozialstaat, ist allerdings die unverzichtbare Bedingung dafür, dass sich niemand deswegen sorgen muss.“

Schröder und Genossen waren und sind die Antipoden dieser Forderung, wenn man solche nicht nur als Pflichtübung begreift! Sie vergaßen: Die SPD ist P a r t e i!  Man kann nicht Partei für alle ergreifen! S i e muss sich vorrangig nicht um das Wohl der Wirtschaft kümmern! Das machen mit Erfolg genügend andere. So zu tun, oder zu glauben, man könne es Allen recht machen, verkennt die Realität kapitalistischer Klassen- und Machtverhältnisse, verkennt den aktuellen realen Klassenkampf von oben! Darauf hat die SPD Antworten zu geben und sich nicht als Genossin der Bosse feiern zu lassen!

O. S.: „Gerade wegen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse ist es unabdingbar, die unteren Lohngruppen durch einen substantiellen Mindestlohn abzusichern, der hoch genug ist, um im Alter nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein. Die Sicherheit, die Tarifverträge und Gewerkschaften in der old economy geschaffen haben, ist auch in der digitalen Ökonomie nötig. Sichere Arbeitsverhältnisse sind auch künftig ein wichtiges politisches Ziel. Männer und Frauen müssen auch endlich für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Krippen, Kitas, Ganztagsschulen, qualitativ hochwertige Bildungsangebote an Schulen, Berufsschulen und Universitäten sind weitere wichtige Bedingungen für ein gutes Leben in sich rasant wandelnden Zeiten. Man muss in einer sich immer schneller verändernden Welt das Recht und die Möglichkeit haben, auch im fortgeschrittenen Alter einen neuen beruflichen Anfang durch eine Berufsausbildung oder eine Hochschulausbildung zu suchen. Und das Leben muss auch für Normalverdiener bezahlbar bleiben, deshalb braucht Deutschland gebührenfreie Betreuung und Bildung und bezahlbare Wohnungen. Und ein gerechtes Steuersystem.“

Das sind wunderschöne Ziele! Aber welcher Weg soll dahin führen? Mit einem „Bitte, bitte“ liebe Wirtschaftsmacht- und Kapital- und Geldbesitzer“ ist es nicht getan, alle solche Versuche sind bisher gescheitert.

Ziele zu  z e i g e n,  ohne d a r a u f Antworten zu geben und dennoch fröhlich gewählt werden und regieren zu wollen – das war, kurz gefasst, das dürftige Fazit des Schulzschen Wahlkampfs . . ! Die Wählerinnen und Wähler haben‘s quittiert!

O. S.: „Wirtschaftliches Wachstum wird auch in Zukunft eine zentrale Voraussetzung sein, um eine fortschrittliche Agenda zu verfolgen. Die ökonomische Kompetenz der SPD rührt daher, dass sie weiß, dass alleine aus technischem Fortschritt oder der Digitalisierung kein Wachstum entsteht. Das gelingt nur, wenn sie einher gehen mit einer guten Einkommensentwicklung, auch der unteren Lohngruppen. Das war schon beim Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit so. Das Versprechen des Wohlstands für alle gehörte dazu.“

Ausflucht: „Wirtschaftliches Wachstum“! Es ist eine Binsenweisheit, dass nur verteilt werden kann, was erarbeitet wird! Es sollte hier aber darum gehen, w i e verteilt wird! Und da kann sofort etwas geschehen, da kann immer etwas geschehen – und dies zu wissen, war immer ein Grundgedanke der Sozialdemokratie! Soziale Gerechtigkeit ist nie an wirtschaftliches Wachstum gebunden!

 – Und was heißt „fortschrittliche Agenda“? Für die SPD wäre es wichtiger zu wissen, woher historisch ihre  s o z i a l e  Kompetenz rührt! Ihre ganze „ökonomische Kompetenz“  hat der SPD offensichtlich nicht zum Wahlsieg verholfen. Und nebenbei: das „Wirtschaftswunder“ zeichnete sich nicht durch das „Versprechen“, sondern durch das tatsächliche Wachsen von „Wohlstand für alle“  aus! Und das war in gewissem Grade einer sozialen Nachkriegskompetenz eines  legendären CDU-Wirtschafts-Ministers geschuldet! Da gäbe es doch Fragen zu beantworten!

O. S.: „In der politischen Debatte stellen die einen ausschließlich die offensichtliche ökonomische Prosperität des Landes (und nicht weniger Bürgerinnen und Bürger) heraus und die anderen nur die ebenso offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten. Darin liegt eine große Gefahr. Konsequenz einer solchen jeweils einseitigen Beschreibung der Realität, ist wachsendes Unverständnis und politische Desintegration. Man kann das am Beispiel der USA genau beobachten. Kein Wunder, dass linke und rechte populistische Parteien heute überall Gehör und Anhänger finden, obwohl sie keinerlei praktikable Lösungen vorschlagen. Und kein Wunder, dass Ressentiments und nationalistische Rezepte als Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung nun erneut in der politischen Arena auftauchen. Auch im neuen Bundestag werden sie lautstark vorgetragen werden. Letztlich hilft gegen (rechts)populistische Parteien nur, dass die Volksparteien die richtigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit haben – und verstanden werden. Sie müssen die Problemlösungsfähigkeit der Demokratie unter Beweis stellen.“

Ausflucht: Die Gefahr gehe von einseitigen politischen  D e b a t t e n  aus, wie: hie CDU/CSU mit „Deutschland geht es gut“ und dort die LINKE mit ihrer Kritik an „offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten“!

Und da sollen es d i e  „Volksparteien“ richten: wenn sie nur erst die richtigen          A n t w o r t e n  auf die  F r a g e n  u n s e r e r  Z e i t  haben? Die nächste große Koalition lässt grüßen! 

„Disparitäten“: warum diese verschämt verharmlosende Vermeidung, Kinderarmut, Altersarmut, Bildungsnotstand etc. nicht beim Namen zu nennen? – Der US-Wahlkampf  Hillary Clintons, beweist in der Tat genau, dass ihr und ihrem Land die Ausblendung der von  B e r n i e  S a n d e r s  benannten „Disparitäten“ zum Verhängnis wurde. Aber s i e war die Wunschkandidatin der SPD!

O. S.: „Es geht also um Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung.

Der SPD muss es gelingen Fortschritt und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik und einer unmittelbar daran anschließenden Erzählung zu verbinden. Dabei geht es nicht um eine bloße Addition, sondern das jeweils eine muss sich aus dem jeweils anderen ergeben. Sozialdemokratische Politik muss dafür einstehen, dass Weltoffenheit und Offenheit für den technischen Fortschritt einerseits, sozialer Friede und gerechte Lebensverhältnisse andererseits vereinbar sind. Sie muss eine Politik formulieren, die zeigt, wie Wachstum möglich ist, an dem alle Bürgerinnen und Bürger teilhaben.

Nebelkerze: Fortschritt! Ersetzten wir oben realistischerweise „Fortschritt“ durch Kapitalismus – dann müsste es heißen: der SPD muss es gelingen, Kapitalismus und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik… zu verbinden… Bis heute ist es leider nie gelungen, soziale Gerechtigkeit  darum sollte es doch gehen?  mittels p r a g- m a t i s c h e r  Politik durchzusetzen. Es scheint hier eher um ein pragmatisches Umdefinieren von „Sozialer Gerechtigkeit“ zu gehen, so, dass dieser Begriff verschwinden kann – wie tendenziell in diesem Text!

 – Schon jetzt haben alle Bürgerinnen und Bürger teil am Wachstum – allerdings je nachdem: an wachsendem Reichtum oder an wachsender Armut!

O. S.: „Und sie muss angesichts der begrenzten Handlungsspielräume der Nationalstaaten in Europa für die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer Gemeinschaft stehen, die Fortschritt und Gerechtigkeit heutzutage sichern kann und politisch auch sichern will. Im Unterschied zu den populistischen Parteien muss sie eine proeuropäische Partei sein. Nur die Europäische Union verschafft der Demokratie in der veränderten Welt die Möglichkeit, „to take back control“, wie die Brexiteers verlangten. Sozialdemokratische Politik unterscheidet sich von konservativer oder liberaler, weil sie das im Interesse der Bürgerinnen und Bürger erreichen will.“

Ausflucht: „begrenzte Handlungsspielräume“: Es gibt noch immer genug politischen Handlungsspielraum, obwohl Politik, auch exekutiert durch sozialdemokratische Politiker, sich durch lobbyistische Gesetzgebung zunehmend selbst entmachtet! Möglich wäre zum Beispiel Umverteilung von Oben nach Unten durch eine gerechtere Steuergesetzgebung, die die systemische „natürliche“ Umverteilung von Unten nach Oben, die auf puren wirtschaftlichen Machtstrukturen und Klientelpolitik beruht, wenigstens partiell ausgleichen könnte! Auf europäischer Ebene ist es nicht nur „a n g e-  s i c h t s“ einer sich aus dem Wesen einer solchen Union heraus logisch ergebenden und ja auch gewollten Begrenzung bzw. Verschiebung von nationalen Handlungsspielräumen unabdingbar, sondern   g e n e r e l l, eine   s o z i a l e,  eine im Interesse der Bürgerinnen und Bürger handelnde Union zu schaffen und deren Charakter und Leitbild neu zu definieren und genau wie auf nationaler Ebene, alle für dieses Ziel bereite Parteien und Bewegungen zusammenzuschließen!  N u r  proeuropäisch zu sein, ist kein Wert an sich! Unter der gegebenen personellen und ideologischen Ausrichtung der SPD müssen solche „Erzählungen“ allerdings in Regionen utopischer Märchenwelten verwiesen werden – bei schonungsloser Betrachtung!

O. S.: „Anerkennung

 Eine Einsicht wird für die Zukunft der sozialen Demokratie zentral sein. … … die höhere Durchlässigkeit, die unser Bildungssystem bietet, bedeutet keineswegs, dass sich die sozialen Fragen damit erledigt hätten. … Noch wichtiger ist aber die Einsicht, dass ein gelungenes Leben auch ohne Hochschulabschluss möglich ist und möglich sein muss. …wer Metallbauer, Lagerarbeiter oder Krankenpflegerin werden und das auch bleiben will, hat im Leben nichts falsch gemacht. Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien, klingt aber manchmal so. Und darin liegt eine Kränkung fleißiger Bürgerinnen und Bürger, die sie auch empfinden. Denn eine Friseurin, eine Postbotin oder ein Altenpfleger findet Bestätigung im Beruf, verrichtet die Arbeit gewissenhaft und hat ein hohes Berufsethos.“

Ausflucht: Populistisch wird die Problemursache verschoben auf „Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien“!  Hat die SPD nicht lange genug mitregiert um kraftvoll für eine nicht zuletzt auch  m a t e r i e l l e  A N E R K E N N U N G der unterprivilegierten Berufe kämpfen zu können? Die Wiederentdeckung der Postbotin, der Friseurin etc. und deren Berufsethos ist in diesem Zusammenhang eher beschämend. Dem Geist des Neoliberalismus ist leider auch die Führung der SPD erlegen und gerade das Schicksal der Postbotin und vieler anderer Berufsgruppen wurde durch ihr u. a. von Privatisierungswahn bestimmtes Regierungshandeln nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen!

O. S.: „ … der Verweis auf die Durchlässigkeit [des Bildungssystems – J. A.] rechtfertigt nicht, dass sich die Politik etwa nicht dafür engagiert, die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven ungelernter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern. Tut sie das nicht, klingt die einst fortschrittliche Forderung nach dem Aufstieg durch Bildung in den Ohren weiter Teile der Bevölkerung nach einem elitären Abgrenzungsmerkmal. Das kann zu gesellschaftlicher Spaltung und auch zur Abwendung von demokratischer Politik führen.“

Dieses Dozieren über Risiken und Nebenwirkungen falscher Sozial- und Bildungspolitik verwechselt Ursache und Wirkung und lenkt von Verantwortung ab ins Ungefähre, hin zu den „Ohren weiter Teile der Bevölkerung“. Das Versagen der Politik führt nicht zur Spaltung der Gesellschaft, sondern ist Ausdruck dieser Spaltung, die im gegebenen Rahmen nur verschärft oder gemildert werden kann!

O. S.: „… Als Partei des Volkes muss die SPD eine gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellung entwickeln und vertreten, die die Anliegen aufstiegsorientierter Milieus und nichtaufstiegsorientierter Milieus in einem gemeinsamen modernen Projekt zusammenführt.“

In diesem „gemeinsamen modernen Projekt“ der Zusammenführung völlig neu kategorisierter Milieus werden sich, in ihren „Anliegen“ versöhnt, Bettler und Millionär treffen wie einst im Paradies Löwe und Reh! Dies wird und kann nur das Werk einer Sozialdemokratischen Einheitspartei Deutschlands sein!

O. S.: „Volkspartei und Regierungsverantwortung

Die SPD ist die älteste demokratische Partei Deutschlands und eine der ältesten Parteien der Welt. Sie ist immer eingetreten für Freiheit, Demokratie und Recht. Und für den sozialen Zusammenhalt.“ Das mit dem sozialen Zusammenhalt kam bei Bebel noch nicht vor! Da hieß es noch Klassenkampf und Sozialismus! 

O. S.: „Sie war immer eine von vielen Mitgliedern getragene Partei. Den mühseligen Aufstieg zur führenden Partei in der Bundesrepublik während der sechziger Jahre hatte sie durch die Wandlung zur Volkspartei, die Mitglieder und Wähler in allen Schichten und Milieus der Bevölkerung sucht, vorbereitet. Die progressive (!) Volkspartei SPD stellte sich so auf, dass schließlich von 1969 an dreizehn Jahre lang große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mochten. Auch heute gilt: Die SPD muss progressive Volkspartei sein wollen. Und die SPD muss die Regierung führen wollen. Beide Ziele bedingen einander.“

Dass die SPD die älteste demokratische Partei Deutschlands ist, macht ihren Zustand nicht besser. Besser wäre, die Gründe ohne Ausflüchte zu suchen, die unsere Partei in diesen desaströsen Zustand versetzt hat! Was war es, dass viele Wähler nach der Brandt-Ära ihre Gunst vorzugsweise anderen Parteien oder dem Nichtwählen schenkten? Was verursachte das Schwinden der Wählergunst nach Schröders Fahrt mit vollen Segeln und dem „Schröder-Blair-Papier“ an Bord in neoliberale Gewässer? War es dieses Papier, das als die letzte theoretische Leistung und als eminente Fehlleistung  in die Geschichte der Partei eingehen wird? Ein Papier, das zuerst wegen des negativen Echos an der Parteibasis wieder im Schreibtisch verschwand, dessen Geist dann aber schließlich doch noch glücklos, in Hartz-Gesetzgebung und Agenda 2010 gegossen, siegte! – Auch wenn stupid beteuert wird, es sei nicht alles daran schlecht gewesen: diese von dem Machern für progressiv gehaltene neoliberale „Wirtschaftskompetenz“ und die entsprechende neue Ausrichtung der Partei war die tiefere Ursache für den Verlusts hunderttausender Genossinnen und Genossen!

 – Fürwahr, die SPD ist eine andere geworden, seitdem sie sich, konkurrierend mit den anderen „demokratischen Parteien“ in der Mitte tummelt! Als die Wählerschaft der SPD unter Brandt die Regierung ihres Landes anvertrauten, hatte die Partei ein Projekt, das sich in der damaligen Situation „links“ nennen durfte, und das von rechts als kommunistisch, das es nicht war, ge(t)adelt wurde! Nein, nicht bei allen biederte sich jenes Projekt an! Aber es hatte die Unterstützung sowohl der Arbeiterschaft als auch der geistigen Elite! Was für ein Aufbruch damals! Und heute? 

O. S.: „Gibt die SPD den Anspruch Volkspartei zu sein auf, wird sie nur (noch) die erreichen, die mit ihr fast vollständig übereinstimmen. Politik lässt sich aber nicht auf eine Geschmacksfrage (?) reduzieren. In einem Parlament mit nun sechs Fraktionen ist die Gefahr groß, dass die Parteien angeschaut werden, wie das Warenangebot in einem Supermarkt. Und da wechseln eben die Vorlieben schnell. Vor allem wenn die Parteien sich selber bloß wie das aktuell günstigste Angebot anpreisen.“

Ausflucht: Statt „Schonungsloser Betrachtung der Lage“: Pseudoargumente für ein neues Weiter-So! Der Anspruch, schlicht Volkspartei  s e i n  z u  w o l l e n, als gäbe es ein schlichtes Volk, wird die SPD nicht retten. Weil Scholz, vermutlich ideologisch befangen, Klassenfragen negiert und sie zu Geschmacksfragen macht, wird letztlich genau das passieren, was er anprangert! Da die SPD für alle dasein will, wird ihr am Ende zwangsläufig nichts anderes übrigbleiben, als ein Gemischtwarenangebot zu offerieren, in dem, so die fatale Hoffnung, das Volk dann schon je nach „Geschmack“ etwas passend Wahlmotivierendes finden wird. Nur, noch einmal: so ein Volk, von dem seit eh sowohl „ideologiefrei“ als auch ideologisch vorzugsweise von Diktatoren geträumt wurde, gibt es nicht!

O. S.: „Die SPD kann daher, wenn sie nicht mehr Volkspartei sein wollte, zerrieben werden zwischen den konservativ beharrenden Parteien und denen, die unrealistische aber stets weiterreichende Forderungen aufstellen. Und nur über das Integrationsprojekt Volkspartei, kann die mit ihr verbundene – in der politischen Geschichte seltene – Kombination von lebensweltlicher Liberalität und Zusammenhalt gelingen. Die SPD muss für mutige Reformen stehen, die vernünftig sind und an deren Umsetzung man glauben kann. Sie wird aber zwangsläufig an Zustimmung verlieren, wenn sie sich auf den Wettbewerb der schrillsten Töne einlässt.“

Die SPD, wenn sie so weitermacht, und nichts deutet, schon unterm Aspekt der Personalfrage, darauf hin, dass sich Grundlegendes ändern könnte, wird zwangsläufig im Parlament zerrieben werden! Nicht selten, sondern nie gelang auf Dauer eine so naiv für möglich gehaltene „Kombination“: „Zusammenhalt“ plus „Liberalität“, was ja auf nichts anderes hinausliefe als: Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche in einer durch „Liberalität“ gesetzlich geschützten Ausbeutergesellschaft. Von allen Seiten, je unterschiedlich motiviert, wird man ihr ihre „lebensweltlichen“ Illusionen  unter die Nase reiben!

 – Das Wahlvolk lässt sich bekanntermaßen leichter verführen, wenn es verarscht wird und sich dementsprechend fühlt! Schon allein aus purer Verantwortung vor den Folgen nicht gezogener Lehren aus der Geschichte muss die SPD sich dringend und ehrlich mit dem rationalen Kern der noch immer virulenten Frage auseinandersetzen: „Wer hat uns verraten …?

1965, nach der Bundestagswahl schrieb Herbert Marcuse, selbst 1919 kurz Mitglied der SPD, an Theodor W. Adorno, der SPD gewählt hatte: „Die deutschen Wahlen sind ausgegangen, wie du es vorausgesehen hast. Ich hätte bestimmt nicht SPD gewählt. Die Niedertracht dieser Partei macht sie auch zum <geringeren Übel> untauglich. Sie wagt es, noch den Namen zu führen, den sie einmal hatte, als Karl und Rosa ihr angehörten. Und sie wird den kommenden Faschismus genau so wenig verhindern wie die CDU.“ Das sind düstere, böse Worte; ihre prophetische Mahnung sollte dennoch nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden!

O. S.: „Stellt die SPD sich als progressive Volkspartei so auf, dass große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mögen, wird sie bei Bundestagswahlen auf neue Erfolge hoffen können. Und deshalb muss die SPD in Fragen der Außenpolitik, der Europapolitik, der äußeren und der inneren Sicherheit, der Wirtschaftspolitik, des Umgangs mit öffentlichen Haushalten aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger im höchsten Maße kompetent sein. Kompetenz ist auch wegen“ auch deswegen? „der Migration gefragt, die die europäischen Gesellschaften vor neue Aufgaben stellt. Je unwirtlicher und unsicherer die Welt wird, je mehr wird diese Kompetenzerwartung an Bedeutung gewinnen.“ Nun, da sollte die Kompetenzerwartung doch rasch erfüllt werden können! „Da handelt es sich keineswegs um eine nebensächliche Frage.“ Genau! „Wollen viele Bürgerinnen und Bürger, dass die SPD die Regierung führt, kann sie schnell zehn Prozentpunkte zulegen. Dann kann sie auch aus Bundestagswahlen als stärkste Partei hervorgehen und daraus einen Auftrag zur Bildung einer Regierung ableiten.“ Dieser überraschenden Logik wird man plausibel nicht widersprechen können! „Die plötzlich ansteigenden Umfragewerte zu Beginn des Jahres 2017 haben eindrucksvoll diesen Zusammenhang demonstriert. Es war eine hoffnungsvolle Projektion der Wählerinnen und Wähler, die erneut möglich ist, wenn sie es plausibel finden, dass die SPD diese Erwartungen erfüllt.“ Die Wähler haben aber ihre „Projektion“ letzthin nicht lange plausibel gefunden! 

 – Die Zauberformel Aufstellung als „progressive Volkspartei“ und der Blick in die Zukunft, was dann alles w i r d sein können, wird nicht viel helfen! Immerhin, einen Anflug von Selbstkritik enthält sie: denn mitgesagt wird, was doch hätte längst sein können! Und es wird mitgefragt nach Verantwortung! Eine Vertiefung dieser Frage verbietet sich jedoch leider von selbst, wenn nach herber Niederlage Geschlossenheit als erste Parteibürgerpflicht gefordert wird – von der alten Mannschaft!

O. S.: „ …“

Klare Grundsätze

Die SPD regierte vor allem nach den Wahlerfolgen 1998 und 2002 in mancher Hinsicht anders, als die Wählerinnen und Wähler nach dem Eindruck aus dem Wahlkampf erwarteten. Die große Koalition 2005 startete mit einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung, die im Wahlkampf zuvor noch heftig bekämpft worden war. Das hat strukturell Vertrauen gekostet.“

Ungeschminkt: das war Wahlbetrug und ein überflüssiges Geschenk an den Koalitionspartner. Ob strukturell oder nicht, es hat Vertrauen gekostet – kostbares!

O. S.: „Und das ist hochgefährlich, denn Vertrauen ist die wichtigste Währung der Politik. In dieser Hinsicht hat sich die SPD am Ende der gerade ablaufenden großen Koalitionsregierung nichts vorzuwerfen.“

Tatsächlich, die SPD war zuverlässiger Koalitionspartner – gegenüber CDU/CSU! Erst in der letzten Bundestagssitzung zog Andrea Nahles, von ihrer avisierten neuen Rolle als Oppositionsführerin sichtlich beeindruckt, so vom Leder, dass Merkel nur noch irritiert und dann amüsiert staunen konnte.

O. S.: „Sie hat, obwohl nur der kleinere Partner, eine beachtliche sozialpolitische Erfolgsbilanz. Auch im Hinblick auf Fragen der Liberalität besteht die SPD diesen Test, wenn man auf die fast vollständige Abschaffung der Optionspflicht für in Deutschland geborene junge Leute schaut, die nicht mehr zwischen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern wählen müssen. Oder wenn man die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare betrachtet. Auf dem Vertrauen, dass diese unter Beweis gestellte Verlässlichkeit ermöglicht, kann aufgebaut werden. Als Lehre für die Zukunft taugt diese Rückbetrachtung aber auch. Die SPD darf nicht anders regieren, als sie zuvor in einer Wahlkampagne angekündigt hat. Schon bei der Erstellung der Wahlprogramme muss das bedacht werden. Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.“

Ausflucht: Eigentlich hat man in der Großen Koalition alles richtig gemacht, nur in früheren Regierungs- bzw. Mitregierungszeiten sind Fehler gemacht worden! Und nun erst hat sich das auf das Wahlergebnis ausgewirkt? Der Wähler sozusagen ein geistiger Spätzünder? Seehofer immerhin, die Erschütterung war ihm noch anzumerken: „Wir haben verstanden!“ Hier nur nochmal oberlehrerhafte Schelte für Müntefering und Schröder: „Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.“  

O. S.: „Die SPD wird seit längerem als zu taktisch wahrgenommen. Diese Wahrnehmung darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Denn wenn Reformvorstellungen als nicht ernstgemeint angesehen werden oder als Vorschläge, die präsentiert werden, um Wählerinnen und Wähler anzusprechen und nicht, weil sie der SPD wichtig sind, dann sind sie auch nur die Hälfte wert. Überwinden kann man diese Wahrnehmung nur mit Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik. Und wenn die SPD verstanden wird anhand ihrer Grundsätze.“

Verschämte halbe Wahrheit: die „Wahrnehmung“ sei schuld! Aber das Problem ist, dass es die Wahrnehmung von etwas Realem ist: der fehlenden „Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik“ und damit von etwas für den Zustandder SPD Substanziellem! Dessen Überwindung Olaf Scholz hier zurecht für die Zukunft anmahnt.

 – Keine Partei wird verstanden „anhand ihrer“ Grundsätze! Schon der Apostel forderte seine Gemeinde auf: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“ (1. Johannes 1, 2-6)

O. S.: „Und die SPD muss konkret sein, auch wenn es um soziale Gerechtigkeit geht.“ Ja, selbst da! „Nur anhand konkreter Vorschläge bleibt der Begriff nicht abstrakt. Nur konkrete Vorschläge können auch politisch wirkmächtig werden. … eine deutliche Steigerung des Mindestlohns, die Abschaffung der Möglichkeit, Arbeitsverträge ohne Sachgründe zu befristen, das Recht nach vorübergehender Teilzeitbeschäftigung wieder Vollzeit zu arbeiten, die Stabilisierung des Rentenniveaus, paritätische Beträge in der Krankenversicherung, die massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, Gebührenfreiheit in Kitas, Ganztagsschulen, ein Rechtsanspruch auf eine neue Berufsausbildung im fortgeschrittenen Alter, Breitbandverkabelung als Grundversorgung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland, die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Unterkunft Arbeitsloser, … Entlastungen bei den Beträgen für Geringverdiener und steuerliche Entlastungen für untere und mittlere Einkommen. Die SPD hat diese und noch mehr konkrete Vorschläge. Sie muss sie auch benennen.“

Ausflucht: Die SPD habe ihre in der Tat beeindruckenden „konkreten Vorschläge“ nur nicht benannt! Warum nicht? Es wäre der genau berechtigte Vorwurf zu befürchten gewesen: ja warum habt ihr das alles nicht schon längst durchgesetzt?! Die Rede vom „Respekt“ vor der Lebensleistung der „hart arbeitenden Menschen“ und was man alles tun wolle, wäre man nur erst Kanzler, war offensichtlich nicht hinreichend für einen Wahlsieg! 

O. S.: „Es geht um viel. Überall in Europa haben die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien an Zustimmung eingebüßt. Manche sind fast oder gar vollständig verschwunden.“

Haben auch diese anderen Parteien ihre tollen Ideen nur nicht genügend propagiert? Die Angst vorm Verschwinden ist verständlich, scheint aber kein guter Ratgeber zu sein! Die selbst geforderte und notwendige schonungslose Betrachtung geht anders!

O. S.: „In Deutschland, vielleicht das Kernland der sozialdemokratischen Idee, ist es unsere Mission, die Zukunft der sozialen Demokratie neu zu beschreiben.“

Nebelkerze: „sozialdemokratische Idee! In der Tat  w a r  Deutschland einmal  –„vielleicht“ – ihr Kernland. Aber darüber zu schweigen, was einmal zu je anderen Zeiten inhaltlich mit „sozialdemokratisch“ verbunden war, und immer so zu tun, als sei die heutige parteiamtliche Interpretation auch die gestrige gewesen, ist unredlich! Genau vor hundert Jahren setzten die Bolschewiki ihre Hoffnung auf eine Revolution in jenem „Kernland… – „da war die deutsche Sozialdemokratie allerdings schon nicht mehr die August Bebels und seiner Genossen.

O. S.: „ … In manchen Ländern Europas kann man nur noch wählen zwischen einer sozialstaatlichen Partei mit lebensweltlich antimodernen Vorstellungen und Ressentiments auf der einen Seite und einer streng wirtschaftsliberalen Partei mit modernen Vorstellungen zum Zusammenleben auf der anderen. Das ist ein Drama für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder.“

Statt Analyse: nebulöses, implizit denunziatorisches Reden über politische Zustände und Parteien in „manchen Ländern“. Ist „sozialstaatlich“ schon zum Unwort geworden? Oder ist „staatssozialistisch“ gemeint, das man anderen linken Parteien unterschieben will, um die fehlende Solidarisierung mit diesen Parteien und die politische Distanzierung zu legitimieren, wie im Fall von Podemos, Syriza, Corbyns Labour Party u. a.?

O. S.: „Die Erneuerung der SPD kann nur entlang klarer Grundsätze gelingen. Sie bedient niemals Ressentiments. Sie ist modern, besonders weil sie für die Gleichstellung von Männern und Frauen steht. Sie ist modern, weil sie auch die Perspektive einer lebenswerten Umwelt verfolgt. Die SPD muss als weltoffene, europafreundliche, fortschrittliche, liberale und soziale Partei beweisen, dass mit einer mutigen und pragmatischen Politik eine bessere Zukunft auch in unseren sich schnell wandelnden Zeiten für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes möglich ist.“

Klare Grundsätze“ fordern und Unschärfe liefern: Seit wann ist Modernität ein sozialdemokratisches Kriterium? – Es sieht so aus, als solle hinter diesem leeren Begriff die Kernkompetenz der Sozialdemokratie zum Verschwinden gebracht werden, die noch immer „soziale Gerechtigkeit“ war.

Alles was die SPD nach Olaf Scholz und Genossen laut diesem Papier sein müssen sollte – weltoffen, europafreundlich, fortschrittlich, liberal und sozial – schreiben sich u. a. auch CDU/CSU auf ihre Fahnen! Das zeigt nur allzu deutlich, wo die Partei angekommen ist: in der bürgerlichen, systemkonformen Mitte, dort, wo angeblich nur Wahlen gewonnen werden können. Dies ist ein gefährlicher Irrglaube. Die SPD wird dort nur noch verlieren können. Wir dürfen nicht der Illusion unterliegen, es werde sich in Deutschland, ähnlich den us-amerikanischen Verhältnissen, die Parteienlandschaft so entwickeln, dass aus der Mitte heraus SPD und CDU – die anderen marginalisierend – die Regierungsgeschäfte alternierend oder gemeinsam werden übernehmen können! Dieses Modell kommt auch in den USA sichtlich in die Krise.

R e s ü m e e

Die Erneuerung der SPD wird unter anderem nur dann gelingen, wenn sie den ernst zu nehmenden gesellschafts- und wirtschaftstheoretischen Diskurs aufnimmt, in dem, nicht zu unrecht, die Marxsche Kapitalismuskritik zunehmend eine prägnante Rolle spielt, nur dann, wenn sie zurück zu ihren Wurzeln findet, anstatt mit immer neuen ideologischen Konstruktionen und Umdeutungen ihrer Werte zu versuchen, den klaren Blick auf die unsozialen Wirklichkeiten mit all ihren Gefahren für die Zukunft der Menschheit zu verkleistern! Dazu gehört auch, sich von von einer bedenklichen Technologiegläubigkeit zu trennen! Technologie, so zeigt uns die Geschichte, kann Lebens- und Arbeitswelt unerbittlich und rasant verändern, nie aber war sie, im gesllschaftspolitischen Kontext, auch nur im Ansatz ein Garant für Gerechtigkeit! Es gibt in unseren Breiten zwar nicht mehr das klassische bis aufs Blut ausgebeutete Industrieproletariat – das wurde teils saniert und gut integriert, teils in fernere Gegenden ausgelagert (externalisiert), aber: an seine Stelle ist, auch bei uns, ein ständig wachsendes Heer raffiniert prekarisierter Menschen getreten. Sich deren Schicksal zu widmen, sollte wieder Kernaufgabe der SPD und aller sozialdemokratisch sich nennenden Parteien werden. Nur dann trügen sie ihren Namen zurecht! Im Kampf um „soziale Gerechtigkeit“ und „eine bessere Zukunft“ muss sozialdemokratische Theorie und sozialdemokratische politische Praxis, ganz gleich ob in Regierungs- oder Oppositionsverantwortung, ihren Horizont über die bestehenden zerstörerischen neoliberal-kapitalistischen Verhältnisse hinaus erweitern!

 

 

 

Ihr Leid und Blut werden über uns kommen…

10 Jul

„… Denn alle Schuld rächt sich auf Erden“

Goethe macht poetisch wirkungsmächtig die „himmlischen Mächte“  verantwortlich für das Fallen der Menschen in Schuld. Diese Mächte haben heute ausgedient. Nicht aber die Flucht vor Verantwortung für das eigene Handeln und seine Folgen, und, als hätte es Aufklärung nie gegeben,  die Ausflucht zu neuen Mythen wie „Sachzwang“ oder „Marktmächten“.

Unsere selbstgefällige westliche Wertegemeinschaft füttert ihren Wachstumswahn durch RAUBBAU an den natürlichen Ressourcen und stillt ihren Hunger durch milliardenfachen RAUBMORD an der Kreatur.

Ob wirklich jemand glaubt, dass dies alles folgenlos für unsere Art bleiben kann?

Ich übernehme eine Rundmail von Oskar Gulla und füge hinzu: Empört Euch! Der Massentierhaltung kann nur mit Massenprotesten Einhalt geboten werden! Empört Euch! Denn das Schicksal der gequälten Tierwelt ist auch Euer Schicksal…

Liebe Freunde,

Massentierhaltung ist nicht nur ein Skandal. Sie ist eine Schande, ein Verbrechen.

Seht euch bitte diesen 12-minütigen Film – „Meet your Meat“ – an!

http://www.youtube.com/watch?v=P1h_vi-j9SU

Dieser Film wurde von Tierschutz-Aktivisten produziert. Was er zeigt, deckt sich mit unzähligen Reportagen, die ich in der letzten Zeit in der Süddeutschen Zeitung, der ZEIT und in Jonathan Safran Foers „Tiere Essen“/“Eating Animals“ gelesen habe. Natürlich findet nicht jede Szene jeden Tag in jedem Stall statt, natürlich zeigt der Film nur bestimmte Ausschnitte. Wesentlich aber ist: Diese Dinge kommen vor, jeden Tag, massenhaft. Sie sind keine Ausnahmen, sie sind Standard in einem System, das auf Profit und billigen Fleischkonsum ausgerichtet ist.

Wie kann es sein, dass man weiß, was in der Tierproduktion vor sich geht und noch immer Fleisch, Eier oder Milch aus Massentierhaltung kauft oder isst?

Wie kann es sein, dass wir von dem Grauen wissen, das wir da in Massenställen und Schlachthöfen verantworten – und nichts tun?

Oskar

Barbara

28 Apr

Der Film

Barbara, Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik, arbeitete als Ärztin an der Charité, der Vorzeige-Klinik ihres Landes mit Forschung und Lehre, gelegen direkt an der Berliner Mauer. Sie hat einen Ausreiseantrag gestellt, was unter den gegebenen Umständen als feindliche Handlung verbucht wurde. Das wusste sie. Ihre Motivation bleibt weitgehend im Dunkeln. Ihr Wunsch scheint den Filmemachern nicht erklärungsbedürftig.

Aus Staatsraison verbietet sich ein Verbleiben Barbaras in der Hauptstadt. Sie wird in die Provinz versetzt. Sie darf weiter arbeiten.

An dieser Stelle beginnt der Film. Es wäre für das Verständnis der Geschichte nicht nur gut zu wissen, warum und wo sie hin will, sondern auch, wo sie herkommt.

Barbara hat Wissen und Bildung und Ansprüche über den selbstbeschränkten Horizont des Arbeiter- und Bauernstaates hinaus. Zu vermutende soziale Herkunft: bürgerliche Intelligenz. Da ist der Zugang zu einem Medizinstudium kein Selbstläufer.

 Barbara macht es ihren neuen KollegInnen nicht leicht, sie zu mögen. Sie ist verschlossen und kann sich, hochmütig ihre Opferrolle pflegend, nur selten zu einem Lächeln aufraffen. Dabei wird sie im neuen Wirkungskreis akzeptiert. Es wird sich bald herausstellen, dass sie Grund hat, misstrauisch zu sein.

Nicht jeder Ausreiseantragsteller wurde ständig überwacht und mehrfach „demütigend“ gefilzt wie der Film unterschwellig suggeriert. Die „inneren Organe“ scheinen Hinweise zu haben und gezielt zu suchen. Und in der Tat, Barbara betreibt konspirativ ihre Flucht, Republikflucht, über die Ostsee.

 „Barbara“ wird hoch gelobt als ein Film der leisen Töne und der der schönen Bilder. Es ist auch der Film einer hervorragenden Schauspielerin (Nina Hoss), von der die Regie (Christian Petzold) kaum zu Leistendes verlangt. Sie hat das Gesicht einer emotional Geschädigten glaubhaft durch die Erzählung zu tragen ohne das Geringste der Gedanken hinter ihrer Stirn preisgeben zu dürfen. Vielleicht ist dieses Manko der Grund für die Enttäuschung der hohen Erwartungen bei der diesjährigen Filmpreisverleiung).

Diese „Gedankenlosigkeit“ des Films ist gewollt und ein simpler Trick, Ideologiefreiheit und Objektivität des Erzählens zu demonstrieren. Scheinbar weit von gängigen Klischees entfernt, bedient er, für naive Betrachter, u. a. das vom Spitzelstaat, indem er offenlässt, ob alle, die Barbara für Spitzel hält – die sich ja, da durch ihre Augen gesehen, vor der Kamera verdächtig machen müssen – auch solche sind.

Barbara entscheidet sich am Ende unvermittelt für ihre Patienten um den Preis Ihres Verbleibens in dem ungeliebten Land und in einer Gesellschaft, die sie als Gesinnungsdiktatur verinnerlicht hat. Sie kann damit zugleich, im vollen Bewusstsein, eine Straftat zu begehen, einer hoffnungslos im System gestrandeten jungen Patientin zur Flucht verhelfen – in eine Freiheit, die für sie selbst, so scheint es, zuletzt suspekt geworden war. Diese Fluchtszene am stürmischen Ostseestrand geriet denn auch abenteuerlich zum Schwächsten, was der Film zu bieten hatte.

Ob gewollt oder eher wohl ungewollt der Film verweist auf die Aktualität von Dilemmata, in die menschliche Werte in Diktaturen geraten können. Der Konflikt zwischen Gauck’scher Freiheit und Hippokrates’schem Eid – im Film hinter der Mauer angesiedelt – wird längst schon, wenn auch in anderer Gestalt, unter dem Diktatat des „Marktes“ sichtbar. War sich Barbara dessen bewusst? Die Frage ist müßig.

Entscheidungen, zu denen durch gesellschaftlich determinierte Konflikte das Individuum genötigt wird, haben immer auch eine moralische Dimension, und ihre politische Bedeutung kann allenfalls verkannt oder verleugnet werden.

Seit über 15 Jahren wieder Armenspeisung im reichen Deutschland

16 Nov

„Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade“. Pestalozzi 

NDRkultur brachte am letzten Sonntag in der Sendung „Glaubenssachen“ Betrachtungen, die sich der Praxis der „Suppenküchen“ etc. annehmen – einer Praxis, der selbst die sich verschärfenden gesellschaftlichen Widersprüche anhaften, denen sie ihr Dasein verdankt, und die in Gefahr steht, die Not, die sie lindern will, zu verstetigen. Der Verfasser macht die Probleme anschaulich bewusst und unterbreitet schließlich der Menschenwürde Rechnung tragende Vorschläge. Seine Betrachtungen zielen auf mehr als auf Kritik an einer karitativen Bürgerbewegung, die er sich zugleich als Bürgerrechtsbewegung wünscht:

Pannendienst an der Gesellschaft? Tafeln und Suppenküchen in der Kritik

Von Hans-Jürgen Benedict

In der reichen Stadt Hamburg gibt es fast 30 verschiedene Essenausgabestellen und Tafeln, in denen Lebensmittel verteilt werden. Armenspeisungen in der Wohlstandsgesellschaft. Vor 15 Jahren kannte man solche Bilder nur aus den USA. Bei uns gab es Suppenküchen zuletzt in der Weimarer Republik und natürlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im goldenen Zeitalter des Sozialstaats verschwanden diese karitativen Einrichtungen. Jetzt sind sie wieder da – barmherzige Tafeln, Suppenküchen, Mittags-tische, Vesperkirchen; dazu Kleiderkammern, Sozialkaufhäuser und „Umsonstläden“. Mehr als 800 Tafeln versorgen landauf landab Bedürftige mit Lebensmitteln, deswegen wird der Name Tafel inzwischen als Oberbegriff für diese verschiedenen ergänzenden Armutsdienste in unserer Gesellschaft verstanden. Sie versorgen eine Armuts-bevölkerung, deren Zahl in den letzten zwei Jahrzehnten drastisch angewachsen ist…

…….

Die Tafelbewegung sei die größte Bürgerinitiative der Bundesrepublik, sagt der Vorstand der Tafeln stolz. Richtig. Es ist aber leider keine Bürgerrechtsbewegung.
Denn was als Zwischenlösung in einer Notsituation gedacht war, hat sich inzwischen zu einem festen Bestandteil der Versorgung der Armutsbevölkerung entwickelt. Zivilgesellschaftliche Barmherzigkeit wollte armen Menschen helfen, sie blieb aber im Barmherzigen stecken. An die Stelle von Rechtsansprüchen an den Sozialstaat treten Almosen, tritt das Angewiesensein auf private, zivilgesellschaftliche Mildtätigkeit. Private Caritas erspart dem Staat erhebliche Kosten. Aber Barmherzigkeit, die nicht auf die Eingliederung ihrer zeitweiligen Empfänger ins normale Leben abzielt, grenzt diese gegen ihre Absicht weiter aus und trägt so zur sozialen Spaltung der Gesellschaft bei. Die Tafelbewegung ist inzwischen eine Parallelgesellschaft für dauerhaft Arme.

Wie es zugeht in den vielen Suppenküchen, das ist unter sozialrechtlichen Gesichtspunkten nicht mehr akzeptabel. Die alltägliche Ausgrenzung Hunderttausender in einer reichen Gesellschaft ist ein Skandal, der durch Armutsprojekte erträglich gemacht wird. Angesichts des Umbaus sozialstaatlicher Leistungen und Leitbilder stellt sich die Frage, inwieweit Armutsprojekte gegen ihre erklärte Absicht instrumentalisiert werden, um staatlich organisierten Lastenausgleich durch private Wohltätigkeit weitgehend zu ersetzen.
Tafeln sind einerseits notwendig, weil sie die unzureichend gewordene staatliche Grundsicherung ergänzen. Sie sind andererseits fragwürdig, weil sie durch ihren Dienst zu einer Verfestigung von Armut beitragen. Tafeln sind nach Aussage des Tafel-Forschers Stefan Selke ein „Pannendienst an der Gesellschaft“, der gelbe ADAC-Engel für Arme auf der Versorgungsebene. Sie lindern Not, ohne ihre Ursachen zu bekämpfen. Tafeln können zwar zunehmende Spaltungsprozesse regional und lokal ruhig stellen, sie sind aber keine dauerhafte Lösung für das Problem gesellschaftlicher Spaltung...“

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